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Die Kolonie

Die Kolonie

Titel: Die Kolonie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chuck Palahniuk
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uns ab, sieht die Betonwand an und sagt: »Ich weiß, was das ist...«
    Baronin Frostbeule sagt: »Du blutest immer noch.«
    Direktorin Dementi reckt den Kopf ins Zimmer und sagt: »Wenn du nicht bald was isst, wirst du sterben.«
    »Dann lasst mich sterben«, sagt Miss America und wühlt ihr Gesicht ins Kissen.
    Wir alle stehen im Flur und lauschen. Nehmen auf. Augenzeugen.
    Die Kamera hinter der Kamera hinter der Kamera.
    Baronin Frostbeule rückt mit der Suppe noch näher heran. Hinter dem aufsteigenden Dampf spiegeln sich ihre verstümmelten Lippen in dem schimmernden heißen Fett, das auf der Oberfläche schwimmt. Die Baronin sagt: »Aber wir wollen nicht, dass du stirbst.«
    Miss America spricht die Wand an: »Seit wann das denn? Dann könnt ihr die Geschichte doch durch einen weniger teilen.«
    »Wir wollen nicht, dass du stirbst«, sagt Reverend Gottlos in der Tür, »weil wir keine Tiefkühltruhe haben.« Miss America dreht sich nach der heißen Suppe um. Sie sieht uns an, die wir in der Tür ihrer Garderobe stehen. Die Zähne in unseren Mündern lauern. Unsere Zungen schwimmen in Geifer.
    Miss America sagt: »Tiefkühltruhe?«
    Und Reverend Gottlos macht eine Faust und klopft sich an die Stirn, klopft daran wie an eine Tür und sagt: »Hallo?« Er sagt: »Du musst so lange am Leben bleiben, bis wir anderen wieder Hunger haben.«
    Ihr Baby war der erste Gang. Miss America wird der Hauptgang sein. Über den Nachtisch kann man nur Vermutungen anstellen.
    Das Diktiergerät in Graf Schandmauls Hand ist bereit, ihren letzten Schrei mit ihrem nächsten zu überspielen. Die Kamera von Agent Plaudertasche wartet darauf, alles bisher Aufgenommene zu überspielen, um unser nächstes großes Handlungselement aufzunehmen.
    Stattdessen fragt Miss America: Soll das alles sein? Ihre Stimme schrill und zittrig, wie ein Vogel. Soll immer bloß eine schreckliche Sache nach der anderen passieren, bis wir alle tot sind?
    »Nein«, sagt Direktorin Dementi. Sie wischt sich Katzenhaare vom Ärmel und sagt: »Nur einige von uns.«
    Und Miss America sagt, sie meint nicht nur hier, in unserem Museum. Sie meint im Leben. Besteht die ganze Welt nur da. raus, dass Leute andere Leute fressen? Dass Leute sich gegenseitig angreifen und vernichten?
    Und Direktorin Dementi sagt: »Ich weiß, wie du das gemeint hast.«
    Graf Schandmaul schreibt das in seinen Notizblock. Wir anderen nicken. Unser Mythos.
    Immer noch die Suppe in der Hand, betrachtet Baronin Frostbeule ihr Spiegelbild in den Fettaugen und sagt: »Ich habe früher in einem Restaurant gearbeitet, in den Bergen.« Sie tunkt einen Löffel in die Schale und hält Miss America die dampfende Suppe an den Mund.
    »Iss«, sagt die Baronin. »Dann erzähle ich dir, wie ich meine Lippen verloren habe ...«

Absolution
Ein Gedicht über Baronin Frostbeule
    »Auch wenn Gott uns nicht vergibt«, sagt Baronin Frostbeule,
    »können wir doch ihm vergeben.«
    Wir sollten uns als größer als Gott erweisen.

    Die Baronin auf der Bühne. Den meisten erklärt sie:
    »Zahnfleischentzündung«,
    wenn sie ihr zu lange ins Gesicht sehen, in das,
    was davon noch übrig ist. Ihre Lippen sind nur der zerklüftete Rand ihrer Haut,
    rot beschmiert mit Lippenstift.
    Die Zähne dahinter
    das gelbe Gespenst unzähliger Tassen Kaffee und Zigaretten.

    Auf der Bühne, statt eines Scheinwerfers, ein Filmausschnitt.
    Das wehende Herabsinken wirbelnden Schnees.
    Nicht zwei der winzigen bläulichen Flocken haben dieselbe
    Form oder Größe. Im Übrigen trägt sie Gänsedaunen,
    gesteppt und imprägniert. Die Haare unter einer Strickmütze.
    Doch warm genug,
    wird es nie mehr sein.

    Baronin Frostbeule steht in der Bühnenmitte und sagt:
    »Wir sollten Gott vergeben ...«
    Dass er uns zu klein gemacht hat. Zu dick. Zu arm.
    Wir sollten Gott unseren Haarausfall vergeben.
    Unsere Mukoviszidose. Unsere Leukämie.
    Wir sollten ihm die Gleichgültigkeit verzeihen. Dass er uns
    zurücklässt:
    Wir, Gottes vergessenes wissenschaftliche Renommierprojekt, das
    längst Schimmel angesetzt hat.
    Gottes Goldfische, vernachlässigt, bis wir gezwungen sind, unsere
    eigene Scheiße am Grund des Aquariums zu fressen.

    Die Hände in Fausthandschuhen, zeigt die Baronin auf ihr Gesicht
    und sagt: »Leute ...«
    Die Leute vermuten, sie sei einmal hinreißend schön gewesen.
    Weil sie jetzt so schlecht aussieht.
    Die Leute sehnen sich nach Gerechtigkeit. Nach einem Ausgleich.
    Sie vermuten Krebs, selber schuld, etwas, das sie sich

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