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Die Kolonie

Die Kolonie

Titel: Die Kolonie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chuck Palahniuk
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genommen hat und damit lange im Laden herumgegangen ist, dabei immer wieder auf die Klinge geschaut hat, ob da auch wirklich immer dieselbe Szene zu sehen war.
    Claire, eingeschlossen in der Toilette des Antiquitätenladens, erzählt die Geschichte und sagt, es ist nicht leicht, eine so begabte Hellseherin zu sein.
    Tatsache ist auch, dass es nicht leicht ist, mit Claire verheiratet zu sein. Beim Essen im Restaurant mag sie einem zuhören, aber dann bebt sie plötzlich am ganzen Körper auf. Sie hält sich mit einer Hand die Augen zu, wirft den Kopf nach hinten und dreht sich von dir weg. Noch zitternd, späht sie durch die Finger zu dir hinüber. Dann stöhnt sie auf, hebt eine Faust an ihren Mund, beißt in den Knöchel und starrt dich wortlos an.
    Wenn du sie fragst, was sie denn hat...
    Sagt Claire: »Das brauchst du nicht zu wissen. Das ist zu furchtbar.«
    Aber wenn du sie drängst, es zu erzählen...
    Sagt Claire: »Versprich mir nur eins. Versprich mir, dass du dich in den nächsten drei Jahren von allen Autos fernhalten wirst.«
    Tatsache ist auch: Sogar Claire weiß, dass sie sich täuschen kann. Um sich zu testen, nimmt sie ein silbernes Zigarettenetui. Und sieht dort ihre Zukunft gespiegelt: sieht sich dort mit dem Rasiermesser in der Hand.
    Kurz vor Ladenschluss geht sie wieder nach vorne, wo der Alte gerade das Schild an der Tür umdreht: von »Offen« nach »Geschlossen«. Dann zog er das Rouleau an der Ladentür herunter. Im Schaufenster lagen Berge von Eierbechern. Bademäntel und Tagesdecken aus Chenille. Parfümflaschen, geformt wie Südstaatenschönheiten in Reifröcken. Tote Schmetterlinge, gerahmt hinter Glas. Rostige Vogelbauer. Eisenbahnlaternen mit röten und grünen Einsätzen. Seidenfächer. Von der Straße konnte man nicht in den Laden sehen.
    Der Alte sagt: »Haben Sie sich entschieden?« Das Glas steht wieder in der abgeschlossenen Vitrine neben der Kasse. Durch die schmutzig weiße Flüssigkeit schimmert nur ein dunkles Auge. Die Muschel eines winzigen Ohrs.
    Claire hatte, während der Alte ihr die Geschichte von Monroes Ermordung erzählte, in der gewölbten Wand des Glases noch etwas anderes gesehen: die verzerrte Reflektion eines Mannes, der ein kleines Fläschchen zwischen zwei Lippen schob. Ein Gesicht, das sich auf einem Kopfkissen hin und her drehte. Den Mann, wie er die Lippen mit seinem Hemdsärmel abwischte. Seine Augen, die sich auf den Nachttisch richteten. Das Telefon, die Lampe, das Glas mit der trüben Flüssigkeit.
    In Claires Vision kommt das Gesicht des Mannes immer näher. Seine Hände schweben riesig heran und hüllen das Glas schließlich in Finsternis.
    Und das Gesicht, das sich da gespiegelt hat, ist das Gesicht des Alten an der Kasse, nur ohne Falten. Und mit kräftigen braunen Haaren.
    Das Glas hinter dem Ladentisch strahlt eine ungeheure Energie aus. Macht. Eine heilige Reliquie, die ihr etwas Wichtiges zu erzählen versucht. Eine Zeitkapsel voller Geschichten und Ereignisse, weggeschlossen in einer Vitrine. Vergeudet. Spannender als die beste Fernsehserie. Ehrlicher als der längste Dokumentarfilm. Eine historische Primärquelle. Eine ganz große Sache. Das Kind da, es wartet darauf, von Ciaire befreit zu werden. Damit es ihr alles erzählen kann.
    Es will Gerechtigkeit. Rache.
    Von den Überwachungskameras beobachtet, hält Ciaire ihm das Rasiermesser hin. Sie sagt: »Ich will das kaufen, aber ich finde da kein Preisschild.«
    Und der Alte beugt sich über den Ladentisch, um besser sehen zu können.
    Die Straße vor den Schaufenstern ist menschenleer. Die Überwachungsmonitore zeigen den Laden, jeden Winkel: alles leer.
    Auf dem Monitor stürzt der Alte nach hinten, zerschlägt im Fall die Glasvitrine und sinkt in einer Pfütze aus Blut und Scherben auf dem Boden zusammen. Das Glas schwankt, kippt, zerbirst.
    Jetzt, mit ihrem Handy auf der Toilette, erzählt Claire Upton ihrem Mann: »Es war eine Puppe. Eine kleine Plastikpuppe.«
    Ihre Handtasche, ihr Mantel, ihr Schirm, alles voller Blutspritzer.
    Sie sagt ins Telefon: »Weißt du, was das bedeutet?« Und wieder fragt sie nach der besten Methode, eine Videokamera zu zerstören.

20
    Baronin Frostbeule tritt mit einer dampfenden Schale mit irgendeiner Flüssigkeit heran und sagt: »Keine Möhren. Keine Kartoffeln. Trink das.«
    Im Schweinwerferlicht auf dem Bett zusammengerollt, sagt Miss America: »Nein.« Wir drängen uns alle in ihrer Tür, auch Direktorin Dementi, und Miss America wendet den Blick von

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