Die Kolonie
Whittier. »Dann schreiben Sie bitte ein Script zum Thema Müdigkeit.«
Nein, Miss America musste zum Frauenarzt. Zur Blutuntersuchung. Sie brauchte Schwangerschaftsvitamine. »Ich habe einen Termin«, sagte sie. Bei ihrem Freund.
Und Mr. Whittier sagte: »Deshalb hat Moses die Stämme Israels in die Wüste geführt...« Weil diese Leute seit Generationen in Sklaverei gelebt hatten. Hilflosigkeit war ihnen in Fleisch und Blut übergegangen.
Um aus einer Sklavenrasse eine Herrenrasse zu machen, sagte Mr. Whittier, um unterdrückten Menschen beizubringen, wie sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen konnten, musste Moses ein Arschloch sein.
Miss America saß auf der Kante eines blauen Samtsessels und nickte unablässig mit ihrem blonden Kopf. Ihre Frisur wippte auf und nieder. Sie verstand.
Dann sagte sie: »Der Schlüssel?«
Und Mr. Whittier sagte: »Nein.«
Auf seinen Knien eine silberne Mylar-Tüte mit Chicken Marsala, der blaue Teppich um ihn herum mit dunklen Schimmelflecken übersät. Jeder dieser feuchten Flecken ein Schatten mit Armen und Beinen. Ein schimmliges Gespenst. Mr. Whittier löffelte sein Chicken Marsala und sagte: »Erst wenn Sie Ihre Lebensumstände ignorieren können und einfach tun, was Sie zu tun haben, wird die Welt Sie nicht mehr beherrschen.«
»Und wie nennen Sie das hier?«, fragt Miss America und fuchtelt in der staubigen Luft herum.
Und Mr. Whittier sagt, was er noch millionenmal wiederholen wird: »Ich erinnere Sie nur an Ihr Versprechen.« Und: »Was Sie hier ablenkt, lenkt Sie Ihr ganzes Leben lang ab.«
Die Luft wird immer zu stickig sein. Dein Körper zu müde. Dein Vater zu betrunken. Deine Frau zu kalt. Du wirst immer eine Ausrede haben, dein Leben nicht zu leben.
»Aber wenn etwas passiert? Was, wenn uns das Essen ausgeht?«, fragt Miss America. »Dann machen Sie die Tür doch auf, oder?«
»Aber «, sagt Mr. Whittier kauend, den Mund voll Huhn und Kapern, »aber uns geht das Essen nicht aus.«
Und das stimmte auch. Vorläufig jedenfalls.
In dieser ersten Woche aßen wir Gemüsecurry mit Reis. Wir aßen Lachs Teriyaki. Alles aus der Tiefkühltruhe.
Es gab grüne Bohnen in Mylar-Tüten, die man mit bloßen Händen nicht aufreißen konnte. »Unter keimfreien Bedingungen verpackt« stand in Schwarz auf jeder silbernen Tüte. Wir hatten keimfrei verpackte grüne Bohnen und Hühnerfrikassee und goldgelben Mais. In jeder Tüte raschelte etwas, lose Zweige, Steine und Sand. Jede Tüte mit Stickstoff zu einem silbernen Kissen aufgepustet, damit der Inhalt auch wirklich tot blieb. Die Lasagne mit Hacksauce, die Käseravioli.
Keimfrei verpackt oder nicht, unser Missing Link konnte so eine Tüte mit seinen bloßen schambehaarten Händen aufreißen.
Um sich was zu essen zu machen, schnitten die meisten ihre Tüte mit einer Schere oder einem Messer auf. Man griff hinein und wühlte herum, bis man den kleinen Teebeutel mit Eisenoxid fand - das den letzten Rest Sauerstoff absorbieren soll. Man fischte den Teebeutel heraus und kippte ein paar Tassen heißes Wasser rein. Wir hatten eine Mikrowelle. Wir hatten Plastikgabeln und -messer. Pappteller. Und fließendes Wasser.
Man las zehn Seiten in einem Gruselroman, dann war das Essen fertig. Statt Krümeln und heißem Wasser war in dem silbernen Kissen jetzt Hackbraten oder Boeuf Stroganoff.
Wir saßen auf der mit blauem Teppich belegten Treppe im Foyer, einem blauen Wasserfall, die Stufen so breit, dass wir alle auf einer sitzen konnten, ohne uns mit den Ellbogen zu berühren. Das Bceuf Stroganoff war das gleiche, das der Präsident und die Kongressabgeordneten essen würden, wenn sie bei einem Atomkrieg in ihrem Bunker hockten. Es kam vom selben Hersteller.
Auf anderen Silbertüten stand »Schokoladentorte« oder »Flambierte Bananen«. Kartoffelpüree. Makkaroni und Käse. Gefriergetrocknete Fritten.
Seelentrösterspeisen.
Das Verfallsdatum auf den Tüten lag in einer Zukunft, in der wir alle längst tot sein würden.
Erdbeernapfkuchen mit hundertjähriger Lebensdauer.
Wir aßen gefriergetrocknetes Lamm mit gefriergetrocknetem Minzpudding, während Lady Tramp im tiefsten Innern ihres Herzens erkannte, dass sie ihren verstorbenen Gatten wirklich geliebt hatte. Sie liebte ihn immer noch, sie heulte in ihre Hände. Die hochgezogenen Schultern zuckten schluchzend unter ihrem Nerzmantel. Sie wiegte den dicken Diamanten in ihrer Hand, sie musste hier raus, sie musste ihren dreikarätigen Gatten im Familiengrab beisetzen.
Wir
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