Die Kolonie
Chattanooga, sagt der Ölige, diese Moderatorin ist bloß ein Papagei. Alles, was die ihr in den Kopfhörer flüstern, kommt Wort für Wort aus ihrem rotgeschminkten Mund wieder raus. Wenn der Regisseur flucht: »Mist, wir sind zu lang! Rüber zum Tierheim-Report, und als nächstes Werbung...«, dann würde sie das genau so ins Mikro sprechen.
Ein Papagei.
Ohne zu lachen, hört unsere Blondine sich das an. Sie lächelt nicht einmal.
Also erzählt ihr der Ölige von einer Reporterin, die er mal gesehen hat. Liveschalte zu einem Lagerhausbrand, im Hintergrund tobt das Feuer, die Reporterin fummelt an ihren Haaren herum, sieht direkt in die Kamera, die ihr Bild live überträgt, und sagt: »Könnten Sie die Frage wiederholen? Mir ist gerade die Spirale rausgerutscht...«
Sie meinte natürlich nicht die Spirale, sondern ihren Ohrstöpsel mit der Kabelspirale, sagt der Ölige. Er zeigt auf die Sprecherin, die jetzt auf dem Monitor erscheint, und sagt, alle Sprecher haben immer so eine leicht schiefe Frisur. Auf einer Seite etwas länger, damit man das Ohr nicht sieht. Da hat sie nämlich einen kleinen Empfänger drin, über den ihr der Regisseur Anweisungen und Stichworte gibt. Ob die Übertragung noch länger dauert oder ob sie zum GAU eines Kernreaktors schalten müssen.
Die Blondine ist mit so einem Bauchtrainer auf Tour, mit dem man auf dem Boden herumrollt, um abzunehmen. Sie trägt ein rosa Trikot und lila Strumpfhosen.
Ja, sie ist schlank und blond, aber je feiner dein Gesicht geschnitten ist, desto besser siehst du vor der Kamera aus, erklärt ihr der Ölige.
»Deshalb habe ich mein Vorher-Bild immer bei mir«, sagt sie. Sie beugt sich auf ihrem Sessel nach vorn, immer weiter nach vorn, bis ihre Brüste ihre Knie berühren, und wühlt in einer Sporttasche auf dem Fußboden herum. Sie sagt: »Das ist der einzige echte Beweis, dass ich nicht bloß irgend so eine dünne Blondine bin.« Sie zieht etwas aus der Tasche, ein Stück Papier, und hält es zwischen zwei Fingern. Ein Foto. Und die Blondine sagt zu dem Öligen: »Wenn die Leute das nicht sehen, denken sie womöglich, ich bin schon so zur Welt gekommen. Die würden niemals erfahren, was ich aus mir gemacht habe.«
Ein bisschen Babyspeck reicht schon, erklärt er ihr, und schon siehst du im Fernsehen nach gar nichts aus. Eine Maske. Ein Vollmond. Eine dicke Null mit nichts, woran die Leute sich erinnern werden.
»Dieses ganze Fett loszuwerden, das ist das einzig wirklich Große, was ich in meinem Leben geleistet habe«, sagt sie. »Wenn das zurückkommt, ist das so, als ob ich nie gelebt hätte.«
Das Fernsehen, sagt der Ölige, nimmt etwas Dreidimensionales - dich - und macht es zu etwas Zweidimensionalem. Deswegen sieht man auf dem Bildschirm fett aus. Fett und flach.«
Unsere Blondine hält das Foto zwischen zwei Fingernägeln, sie betrachtet ihr altes Ich und sagt: »Ich will nicht bloß irgend so ein dünnes Mädchen sein.«
Dass ihre Haare zu grell seien, dazu erklärt ihr der Ölige: »Deshalb sieht man in Pornos niemals echte Rothaarige. Die kann man neben echten Leuten niemals richtig ausleuchten.«
Genau das will dieser Bursche sein: die Kamera hinter der Kamera hinter der Kamera, die die letzte und endgültige Wahrheit aufzeichnet.
Wir alle wollen derjenige sein, der am weitesten im Hintergrund steht. Derjenige, der sagen kann, was gut ist oder schlecht. Richtig oder falsch.
Unser zu blondes Mädchen, bei deren Haaren die Kameras den Geist aufgeben: Der Ölige erklärt ihr, diese von Lokalsendern produzierten Programme bestehen aus jeweils sechs Teilen mit Werbung dazwischen. Block A, Block B, Block C und so weiter. Diese Morgen- und Vormittagsprogramme sind am Aussterben. Solche Eigenproduktionen sind zu teuer, verglichen mit irgendeiner landesweit ausgestrahlten Talkshow, die man billig einkaufen kann.
Eine Werbetour wie diese, das ist ein moderner Zirkus. Man zieht von Stadt zu Stadt, von Hotel zu Hotel, und führt jeden Abend bei irgendeinem Lokalsender seine Nummer vor. Verkauft neue Hightech-Lockenwickler, Fleckentferner oder Bauchtrainer.
Man kriegt sieben Minuten, um sein Produkt rüberzubringen. Außer man kommt in Block F - den letzten Werbeblock, wo man in der Hälfte aller ADIs aus dem Programm geschmissen wird, weil irgendein früherer Block zu lang gewesen war. Manche Gäste sind so lustig und bezaubernd, dass man ihnen gleich noch einen Block zuteilt. Zwei hintereinander. Falls die Zentrale nicht mit einem
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