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Die Kolonie

Die Kolonie

Titel: Die Kolonie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chuck Palahniuk
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weiß werden. So weiß, dass sogar die bleichen Katzenhaare vor ihrer blauweißen Haut dunkel aussehen. Bis diese weißen, tauben Finger ihr schlaff vom Handgelenk herabhängen.
    Sankt Prolaps bearbeitet den Daumen seiner rechten Hand, die er im Schoß liegen hat, seine linke Hand, zur Faust geballt, fährt an dem Daumen auf und ab. Er prägt sich die Höcker und Gelenke ein, um sie nie mehr zu vergessen. Für die Zeit, wenn der Daumen nicht mehr da ist.
    Wir alle sitzen hier und beobachten einander. Warten auf die nächsten Handlungselemente oder Dialogfetzen, die wir hamstern und für unsere marktfähige Version der Wahrheit verwenden können.
    Agent Plaudertasche bewegt den Scheinwerfer seiner Kamera von einem zum andern. Aus der Hemdtasche des Grafen Schandmaul lugt das Mikrofon seines Diktiergeräts.
    Dieser Augenblick lässt schon den Horror des nächsten Augenblicks ahnen. Dieser Augenblick überspielt bereits den Tod von Mr. Whittier, der den Tod von Lady Tramp überspielt hat, der die Szene überspielt hat, als Miss America Mr. Whittier ein Messer an die Kehle gehalten hat.
    Zu Mrs. Glark sagt Mutter Natur: »Und warum hast du ihn geliebt?«
    »Ich bin nicht hierher gekommen, weil ich ihn geliebt habe«, sagt Mrs. Clark. Zu Agent Plaudertasche sagt sie: »Nicht die Kamera auf mich richten. Auf Video sehe ich schrecklich aus...« Trotzdem, Mrs. Clark lächelt ins grelle Licht des Kamerascheinwerfers, lächelt mit zusammengebissenen Zähnen, ihre Ballonlippen verziehen sich zum Lächeln eines Clowns. Sie sagt: »Ich bin hier, weil ich eine Anzeige gesehen habe ...«
    Und sie hat sich diesem Mann anvertraut, den sie gar nicht kannte? Sie hat sich ihm angeschlossen und ihm geholfen? Obwohl sie wusste, dass er sie nicht mehr rauslassen würde? Das klingt ziemlich unwahrscheinlich.
    Reverend Gottlos mit seinem Fleischlappengesicht, mit seinen abrasierten Augenbrauen, mit seinen Fingernägeln, die so lang sind, dass er keine Faust machen kann, er sagt: »Aber du hast geweint...«
    »Alle Apostel oder Jünger«, sagt Mrs. Clark, »laufen dem Erlöser nach - aber sie laufen auch deshalb, weil sie irgendetwas anderem entfliehen wollen.«
    Unter den Augen der unechten Krieger, unter den Papierorchideen, die gefärbt und gefaltet sind, damit sie natürlich aussehen, sagt Mrs. Clark, sie habe eine Tochter gehabt. Und einen Mann.
    »Cassie war fünfzehn«, sagt sie.
    Sie sagt: »Sie hieß Cassandra.«
    Mrs. Clark sagt, wenn die Polizei ein flaches Grab oder die Leiche eines Mordopfers findet, verstecken die Beamten dort manchmal ein Mikrofon. Eine ganz normale Maßnahme.
    Sie zeigt mit dem Kinn auf Graf Schandmaul, auf das Diktiergerät in seiner Tasche.
    Die Polizisten legen sich auf die Lauer und lauschen, tagelang, wochenlang. Weil der Mörder fast immer zurückkommt und mit seinem Opfer redet. So ziemlich immer. Wir brauchen jemanden, dem wir die Geschichte unseres Lebens erzählen können, und der Mörder kann über sein Verbrechen nur mit jemandem reden, der ihn nicht bestrafen kann. Mit seinem Opfer.
    Selbst ein Mörder hat das Bedürfnis, zu reden, seine Lebensgeschichte zu erzählen, er braucht das so sehr, dass er zurückgeht und sich neben das Grab oder die verwesende Leiche setzt, um dort stundenlang vor sich hin zu quasseln. Bis er mit sich im Reinen ist. Bis der Mörder sich mit der Geschichte seiner neuen Realität überzeugt hat. Und die Realität ist - dass er richtig gehandelt hat.
    Und deshalb wartet die Polizei. (Immer noch lächelnd sagt sie: »Und deshalb bin ich hier.« Mrs. Clark sagt: »Wir ihr habe ich nur nach einer Möglichkeit gesucht, meine Geschichte zu erzählen...«
    Immer noch von Agent Plaudertasches Scheinwerfer angestrahlt, sagt Mrs. Clark: »Bitte.« Sie nimmt beide Hände vors Gesicht und sagt durch die fest geschlossenen Finger: »Meine Ehe wurde von einer Videokamera zerstört...«

Im Nachhinein
Ein Gedicht über Mrs. Clark

    »Du arbeitest einen neuen Angestellten ein«, sagt Mrs. Clark,
    »damit der
    deinen langweiligen alten Job übernimmt.«
    Wenn du ein Kind großziehst.

    Mrs. Clark auf der Bühne, die Arme vor dem Oberkörper verschränkt,
    mit den Händen umfasst sie ihre Ellbogen, auf den Armen
    wiegt sie Brüste, für die sich eine viel mutigere Frau entschieden
    hat.
    Mit einem viel kräftigeren Rücken.
    Diese Brust: Heute eine Erinnerung an jeden Fehler, den sie in
    der Hoffnung auf Rettung begangen hat.
    Ihre Lider in dem Orangeton tätowiert, der vor zwei

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