Die Kolonie
Anhaltspunkt. Jede Schramme ein Indikator. Für jedes Blinzeln, jedes Kreischen oder Kichern gibt es eine Rubrik auf dem Aufnahmeformular. Es gehört zu Coras Job, sich über diese Gesprächsprotokolle auf dem Laufenden zu halten. Über diese Kinder, jede einzelne Akte, jedes aktuelle Ermittlungsverfahren. Bis zu den Ereignissen, die dann geschahen, war Cora Reynolds die beste Büroleiterin von allen.
Und doch, was hier passiert, ist nur Schadensbegrenzung. Kindesmissbrauch kann man nicht ungeschehen machen. Ist ein Kind erst einmal missbraucht, bekommt man die Geister nie mehr aus der Flasche heraus. Ein solches Kind ist praktisch für immer zerstört.
Nein, die meisten Kinder kommen sehr still hier an. Mit Schwangerschaftsstreifen. Längst nicht mehr jung. Kein Lächeln im Gesicht.
Die Kinder kommen hier an, und der erste Schritt ist das Beurteilungsgespräch anhand einer anatomisch gestalteten Puppe. Das ist etwas anderes als eine anatomisch korrekte Puppe, aber viele verwechseln das. Cora zum Beispiel. Sie hat das verwechselt.
Die anatomisch gestaltete Puppe ist im Allgemeinen aus Stoff, einem Stofftier nicht unähnlich. Die Haare sind aus Garn. Der große Unterschied zwischen so einer Puppe und einer zum Spielen sind die anatomischen Details: Penis und Hoden. Oder eine Vagina. Alles aus Stoff gestaltet. Der Anus mit kräftigen Nadelstichen eingestickt. Zwei auf die Brust genähte Knöpfe sind die Brustwarzen. Mit diesen Puppen sollen die Kinder den Missbrauch nachspielen. Zeigen, was Mommy oder Daddy oder Mommys neuer Freund mit ihnen gemacht hat.
Die Kinder stecken ihre Finger in die Puppen. Ziehen die Puppen an den Garnhaaren. Packen die Puppen am Hals und schütteln sie, dass die Köpfe wild umherschlagen. Sie prügeln und lecken und beißen und lutschen die Puppen, und es gehört zu Coras Job, die Brustwarzen wieder anzunähen. Cora treibt zwei neue Murmeln auf, wenn einmal ein kleines Filzskrotum abgerissen wurde.
Alles, was den Kinder angetan wurde, wird diesen Puppen angetan.
In so einen Job stolpert niemand einfach so hinein.
Nähte lösen sich, weil zu viele missbrauchte Kinder die Puppen missbrauchen. Zu viele befummelte kleine Jungen lutschen an diesem rosa Filzpenis. Zu viele kleine Mädchen haben einen Finger, zwei Finger, drei Finger in diese seidengefütterte Vagina gezwängt. Unten und oben aufgerissen. Kleine Hernien aus Watte wölbten sich aus. Unter ihren Kleidern waren diese Puppen völlig verdreckt. Klebrig und stinkend. Das Gewebe war zu Kügelchen zerrieben und mit Narben bedeckt, wo die Fäden sich aufgelöst hatten.
Diese Stoffpuppen, ein Mädchen und ein Junge, werden von der ganzen Welt missbraucht.
Und natürlich gab Cora sich alle Mühe, sie sauber zu halten. Und nähte sie immer wieder zusammen. Bis sie eines Tages ins Internet ging, um ein anderes Paar zu suchen. Ein neues Paar.
Irgendwo gab es Frauen, die Geld damit verdienten, dass sie kleine Vaginas und Hodensäcke nähten. Sie zogen diesen Kindern geblümte Baumwollkleidchen und Latzhosen an. Aber diesmal wollte Cora etwas Dauerhaftes. Im Internet wurde sie fündig. Sie bestellte ein neues Paar bei einem Hersteller, von dem sie noch nie gehört hatte. Und dabei verwechselte sie anatomisch gestaltet und korrekt.
Sie suchte »anatomisch korrekt«, eine Jungen- und eine Mädchenpuppe. So preiswert wie möglich. Dauerhaft. Leicht zu reinigen.
Eine Suchmaschine bot ihr zwei Puppen an. Hergestellt in der ehemaligen Sowjetunion. Mit biegsamen Armen und Beinen. Anatomisch korrekt. Weil das die billigsten waren und weil das der Einkaufspolitik der Bezirksverwaltung entsprach, gab sie die Bestellung auf.
Kein Mensch hat jemals gefragt, warum sie diese Puppen bestellt hat. Als die Schachtel eintraf, ein brauner Karton von den Ausmaßen eines Aktenschranks mit vier Schubladen, als der Auslieferer das Ding auf einer Sackkarre hereinrollte und neben ihrem Schreibtisch abstellte, als er Cora bat, ihm den Empfang zu quittieren - da kam ihr zum ersten Mal der Gedanke, dass es ein Fehler gewesen sein könnte.
In dem Augenblick, als sie den Karton aufmachten und hineinsahen, war es zu spät.
Cora und ein Kriminalpolizist. Die beiden lösten die Heftklammern und wühlten sich durch etliche Lagen Blasenfolie, bis sie auf einen Fuß stießen. Einen rosa Kinderfuß mit fünf naturgetreuen Zehen, der sich ihnen aus den Styroporkugeln und Folienstreifen entgegenstreckte.
Der Polizist wackelte an einem der Zehen. Und sah Cora an.
»Das
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