Die Kolonie
seit Jahren tote Schwester, Mutter, Tochter oder Ehefrau erkennen könnte, wird dieses tote Mädchen von Millionen Leuten geküsst. Seit Generationen drücken Millionen von Fremden ihren Mund auf diese ertrunkenen Lippen. Bis ans Ende der Geschichte werden Leute auf der ganzen Welt versuchen, diese eine tote Frau zu retten.
Diese Frau, die nur hatte sterben wollen.
Das Mädchen, das sich zum Objekt gemacht hat.
Dieses Letztere sagte niemand. Weil niemand es zu sagen brauchte.
Jedenfalls nimmt Cora Reynolds eines Tages auch an diesem Kurs teil. Man packt Modell Betty aus ihrem blauen Plastikkoffer aus. Legt sie auf den Linoleumboden. Säubert ihren Mund mit Wasserstoffperoxid. Hygienische Maßnahme. Routine. Vorschrift. Direktorin Sedlak beugt sich vor und legt Betty die Hände breit auf die Brust. Auf das Brustbein. Jemand kniet sich daneben und kneift Betty die Nase zu. Die Direktorin drückt auf die Plastikbrust. Und der Mann, der neben ihr kniet und seinen Mund auf Bettys Gummimund presst, fängt an zu husten.
Er lehnt sich hustend zurück, hockt auf den Fersen. Spuckt aus. Spuckt saftig aus, einfach so aufs Linoleum. Fährt sich mit dem Handrücken über den Mund und sagt: »Verdammt, das stinkt.«
Die anderen Kursteilnehmer, darunter Cora Reynolds, rücken näher.
Der Mann hockt immer noch da und sagt: »Da ist was drin.« Er hält sich Mund und Nase zu. Wendet sich ab, ab von dem Gummimund, schielt aber immer noch hin und sagt: »Drücken Sie noch mal. Noch mal, sag ich. Ganz fest.«
Die Direktorin, mit beiden Handballen auf Bettys Brust, dunkelrot glänzen ihre Fingernägel, drückt zu.
Und eine dicke Blase quillt zwischen Bettys Lippen hervor. Irgendeine Flüssigkeit, irgendein Salatdressing, dünn und milchig: Die Blase schwillt an. Eine fettige graue Perle. Ein Tischtennisball. Ein Baseball. Und platzt. Die ölige weiße Suppe spritzt umher. Das dünne, wässrige Zeug verpufft zu einer stinkenden Wolke.
Bis zu diesem Tag stand der Zugang zu diesem Krankenzimmer jedem offen. Tür zu. Rollbett aufklappen und in der Mittagspause ein Nickerchen machen. Wenn jemand Kopfschmerzen hatte. Oder Krämpfe. Die Erste-Hilfe-Ausrüstung wurde hier aufbewahrt. Verbandszeug und Aspirin. Man brauchte niemanden um Erlaubnis zu fragen. In dem Raum gibt es bloß das Rollbett, eine Spüle mit Becken zum Händewaschen, einen Lichtschalter. Der blaue Plastikkoffer, in dem Modell Betty aufbewahrt wird, hat kein Schloss.
Die Gruppe rollt die Attrappe auf die Seite, und aus dem weichen Gummimundwinkel beginnt es zu tröpfeln, erst zäh, dann ein kleiner Schwall sahnigen Schleims. Etwas rinnt über die rosa Gummiwange. Etwas bleibt zwischen Lippen und Plastikzähnen hängen. Das meiste sammelt sich zu einer Pfütze auf dem Linoleum.
Diese Attrappe, jetzt eine Französin. Eine Ertrunkene. Ein Opfer ihrer selbst.
Alle stehen da und haben eine Hand oder ein Taschentuch vor der Nase. Blinzeln gegen den Gestank an, der ihnen Tränen in die Augen treibt. In ihren Hälsen hüpfen die Kehlköpfe auf und ab, sie schlucken und schlucken, um Rührei mit Speck, Kaffee und Haferbrei mit Magermilch, Pfirsichyoghurt und Muffins und Hüttenkäse bei sich zu behalten.
Der Mann, das Opfer der Schleimattacke, schnappt sich die Flasche mit Wasserstoffperoxid und wirft den Kopf nach hinten. Nimmt einen Riesenschluck und bläst die Backen auf. Starrt an die Decke, Augen geschlossen, Mund offen, gurgelt und gurgelt, beugt sich vor und spuckt das Zeug in die Spüle.
Alle im Raum atmen den Bleichmittelgeruch des Peroxids und dazu den Klogestank aus Modell Bettys Lungen. Die Direktorin gibt Anweisung, den Spurensicherungskoffer für Sexualverbrechen zu holen. Spatel, Tupfer, Handschuhe.
Cora Reynolds stand so nah am Geschehen, dass sie einzelne Spritzer des glibbrigen Zeugs bis zu ihrem Schreibtisch mitschleppte. Einen Tag später wurde das Krankenzimmer mit einem Schloss versehen, und Cora bekam den Schlüssel. Seither muss man, wenn man Krämpfe hat, erst seinen Namen mit Datum und Uhrzeit in eine Liste eintragen, bevor man den Schlüssel bekommt. Wer Kopfschmerzen hat, kann sich von Cora zwei Aspirin holen lassen.
Nach Analyse der Abstriche und Kulturen kam vom Labor die Anfrage: Soll das ein Scherz sein?
Ja, hieß es aus dem Labor, es handele sich tatsächlich um Sperma. Teilweise bereits sechs Monate alt. Aus der Zeit des letzten Reanimations-Kurses. Aber die Menge sei schon enorm. Außerdem habe die DNA-Analyse ergeben, dass hier
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