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Die Kolonie

Die Kolonie

Titel: Die Kolonie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chuck Palahniuk
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Galeriebesitzer. Dann schließt sich ein Stromkreis. Wenn die Box richtig funktionieren soll, muss man sie an beiden Griffen halten. Man drückt ein Auge an das Messing-Guckloch auf der Vorderseite. Das linke Auge. Und schaut hinein.
    Mindestens hundert Leute schauten an diesem Abend hinein, ohne dass irgendetwas geschah. Sie starrten hinein, sahen aber immer nur das Spiegelbild ihres eigenen Auges in der Dunkelheit hinter der kleinen Linse. Und hörten ein leises Geräusch. Das Ticken einer Uhr. Langsam wie das Tröpfeln eines undichten Wasserhahns. Ein leises Ticken aus dem Inneren der schmutzigen, schwarz angestrichenen Box.
    Die Box fühlte sich klebrig an.
    Der Galeriebesitzer hob einen Finger. Er klopfte mit dem Knöchel an die Box und sagte: »Da ist ein Zufalls-Intervall-Timer eingebaut.«
    Das Ding ticke womöglich einen ganzen Monat lang. Oder auch nur eine Stunde. Der richtige Augenblick, um hineinzusehen, sei der, wenn das Ticken aufhöre.
    »Hier«, sagte der Galeriebesitzer, sagte Rand, und zeigte auf einen kleinen Messingknopf, klein wie ein Klingelknopf, an der Seite der Box.
    Man hält die Griffe fest und wartet. Wenn das Ticken aufhört, sagte er, sieht man hinein und drückt auf den Knopf.
    Auf einem kleinen Namensschild, einem Messingschildchen, das oben auf die Box geschraubt war, konnte man, wenn man sich auf die Zehenspitzen stellte, »Albtraum-Box« lesen. Und den Namen »Roland Whittier«. Die Messinggriffe waren grün von den Händen der Leute. Die Einfassung des Gucklochs von ihrem Atem beschlagen. Der schwarze Kasten fettig von ihrer Haut.
    Wenn man die Griffe hielt, spürte man es. Das Ticken. Den Timer. Stetig und unaufhörlich wie ein schlagendes Herz.
    Wenn das Ticken aufhört, sagte Rand, löst der Knopf einen Lichtblitz aus. Einen Lichtimpuls.
    Was man dann sah, wusste Rand nicht. Die Box stammte aus dem geschlossenen Antiquitätenladen gegenüber. Dort hatte sie neun Jahre lang gestanden und ununterbrochen getickt. Ihr Besitzer, der Antiquitätenhändler, hatte die Kunden immer darauf hingewiesen, dass sie möglicherweise defekt sei. Oder ein Scherzartikel.
    Neun Jahre lang tickte die Box in einem Regal vor sich hin und staubte immer mehr ein. Bis eines Tages der Enkel des Händlers entdeckte, dass sie nicht mehr tickte. Der Enkel war neunzehn Jahre alt, ging aufs College und wollte Anwalt werden. Ein junger Mann ohne Haare auf der Brust. Ständig kamen Mädchen in den Laden, um sich an seinem Anblick zu weiden. Ein guter Junge. Er bekam ein Stipendium und spielte Fußball, er hatte ein Bankkonto und ein eigenes Auto und jobbte im Sommer in dem Antiquitätenladen, wo er hauptsächlich Staub wischen musste. Dabei entdeckte er die Box - sie tickte nicht mehr, sie war bereit. Er nahm die Griffe. Er drückte auf den Knopf und sah hinein.
    Der Ladenbesitzer fand ihn: mit einem Ring aus Staub um das linke Auge. Den Blick ins Leere gerichtet. Er saß auf dem Boden, umgeben von Staub und Zigarettenkippen, die er zuvor zusammengefegt hatte. Der Enkel ging nie mehr aufs College. Sein Auto stand am Bordstein und wurde schließlich abgeschleppt. Er saß nur noch auf der Straße vor dem Laden. Zwanzig Jahre alt, und er sitzt den ganzen Tag auf der Bordsteinkante, bei jedem Wetter. Wenn man ihn etwas fragt, lacht er nur. Dieser Junge könnte inzwischen Anwalt sein, stattdessen haust er in einer billigen Absteige. In einer von der Fürsorge finanzierten Unterkunft. Wegen schwerer Depression. Nicht mal wegen Drogen.
    Rand, der Galeriebesitzer, sagt: »Nervenzusammenbruch, aber total.«
    Wenn man ihn besucht, hockt er den ganzen Tag auf dem Bett. Kakerlaken krabbeln in und auf seinen Kleidern herum, in Hosenbeinen und Hemdkragen. Seine Finger- und Zehennägel sind lang und gelb wie Bleistifte.
    Wenn man ihn etwas fragt, wie es ihm geht, ob er isst, was er gesehen hat, bekommt man zur Antwort immer nur ein Lachen. Die Kakerlaken krabbeln in seinem Hemd herum. Fliegen schwirren um seinen Kopf.
    Eines Morgens schließt der Antiquitätenhändler seinen Laden auf, und das verstaubte Durcheinander kommt ihm irgendwie anders vor. Vollkommen fremd. Wieder hat die Box aufgehört zu ticken. Dieser ewige leise Countdown. Und die Albtraum-Box steht da und wartet, dass er hineinsieht.
    Den ganzen Vormittag hält der Händler die Ladentür verschlossen. Leute kommen, beschirmen die Augen, um ins Schaufenster zu spähen. Ob da jemand ist. Ob ein Grund zu erkennen ist, warum der Laden geschlossen hat.
    Genauso

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