Die Kolonie
Hände.
Mrs. Clark lässt sich im Schneidersitz neben ihm nieder und sagt: »Sehen Sie sich meine Notizen an.« Sie sagt: »Sagen Sie mir, dass ich Recht habe.«
Die Albtraum-Box funktioniert nur, sagt sie, weil die Vorderseite nach einer Seite abgewinkelt ist. Dadurch ist man gezwungen, sein linkes Auge an das Guckloch zu halten. In der Messingeinfassung befindet sich eine kleine Fischaugenlinse, wie man sie auch in Wohnungstüren hat. Jedenfalls kann man wegen der abgeschrägten Vorderseite nur mit dem linken Auge da hineinsehen.
»Das hat zur Folge«, sagt Mrs. Clark, »dass man das Gesehene mit der rechten Gehirnhälfte wahrnimmt.«
Egal was man darin sieht, verarbeitet werden muss es von der intuitiven, emotionalen, instinktmäßigen rechten Gehirnhälfte.
Außerdem kann immer nur eine Person dort hineinsehen. Was man da erleidet, erleidet man allein. Was in der Albtraum-Box geschieht, geschieht nur einem allein. Man hat keinen, mit dem man das teilen kann. Für jemand anderen ist da kein Platz.
Außerdem, sagt sie, verzerrt die Fischaugenlinse alles, was man sieht.
Außerdem, sagt sie, suggerieren einem die Worte auf dem Messingschildchen - Die Albtraum-Box -, dass man Angst und Schrecken erleben wird. Damit wird eine Erwartung erzeugt, die man dann selbst erfüllt.
Mrs. Clark wartet auf Zustimmung.
Sie wartet, dass Rand mit den Augen zwinkert.
Die Box steht auf ihrem Stativ über ihnen und tickt.
Rand bewegt sich nicht, nur sein Brustkasten, vom Atmen.
Auf seinem Schreibtisch weiter hinten in der Galerie liegt immer noch Cassandras Schmuck. Ihre kleine, mit Perlen bestickte Handtasche.
»Nein«, sagt Rand. Er lächelt und sagt: »Das ist es nicht.«
Das Ticken geht weiter, laut in der kalten Stille.
Man kann nur die Krankenhäuser anrufen und fragen, ob sie ein Mädchen mit grünen Augen und ohne Wimpern haben. Ruft man zu oft an, sagt Mrs. Clark, hören sie einem gar nicht mehr zu. Schicken einen in die Warteschleife. Damit man endlich aufhört.
Sie blickt von ihrem dicken Notizenstapel auf und sagt: »Sprechen Sie.«
Der Antiquitätenladen gegenüber steht immer noch leer.
»So ist es nicht gewesen«, sagt Rand. Den Blick immer noch auf seine Hände gerichtet, sagt er: »Aber so hat es sich angefühlt.«
Bei seinem früheren Job, den er gehasst hatte, musste er an einem Wochenende einmal an einem Firmenpicknick teilnehmen. Aus Spaß packte er in den Korb, den er mitbrachte, nichts zu essen ein, sondern dressierte Tauben. Für die anderen war das bloß ein Picknickkorb mit Nudelsalat und Wein. Rand legte eine Tischdecke darüber und ließ sie den ganzen Vormittag so liegen, damit es die Tauben kühl und schattig hatten und keinen Lärm machten.
Er steckte ihnen heimlich Weißbrotkrümel zu. Er drückte Polenta zwischen den Korbstäben durch.
Den ganzen Vormittag tranken seine Kollegen Wein oder Mineralwasser und sprachen über Unternehmensziele. Leitbilder. Teamgeist.
In dem Augenblick, als alle glaubten, sie hätten einen schönen Samstagvormittag vergeudet, in jenem Augenblick, da allen der Gesprächsstoff ausging, machte Rand seinen Korb auf, erzählt er.
Leute. Diese Leute, mit denen er jeden Tag zusammenarbeitete. Die einander zu kennen glaubten. Als dieses weiße Chaos. Als dieser Sturm im Mittelpunkt des Picknicks explodierte. Kreischten einige auf. Stürzten andere rückwärts ins Gras.
Hielten sich die Hände vors Gesicht Ließen Wein und Essen einfach fallen. Ruinierten ihre guten Anzüge.
Erst da begriffen die Leute, dass sie nichts zu befürchten hatten. Sahen, dass keinerlei Gefahr drohte. Erkannten es als das Herrlichste, was sie jemals gesehen hatten. Sie sanken dahin, so erstaunt, dass sie nicht einmal mehr lächelten. In den unzähligen Stunden dieses einen langen Augenblicks vergaßen sie alles Wichtige und sahen nur noch dem weißen Flügelgestöber nach, das sich in den blauen Himmel wand.
Die Spirale gewann an Höhe. Und löste sich auf. Und die in vielen Flügen trainierten Vögel drehten ab und folgten einander an jenen Ort, den sie als ihr wahres Zuhause kannten.
»Das«, sagt Rand, »ist in der Albtraum-Box.«
Etwas, das über das Leben nach dem Tod hinausgeht. In der Box befindet sich der Beweis dafür, dass das, was wir Leben nennen, kein Leben ist Unsere Welt ist ein Traum. Von vorn bis hinten unecht. Ein Albtraum.
Ein einziger Blick, sagt Rand, und dein Leben - deine Anmaßung, deine Kämpfe, deine Sorgen - das alles ist sinnlos.
Der Enkel, auf dem
Weitere Kostenlose Bücher