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Die Kolonie

Die Kolonie

Titel: Die Kolonie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chuck Palahniuk
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hätte der Antiquitätenhändler in die Box spähen können. Um zu erfahren, warum. Was geschehen ist. Was einem jetzt Zwanzigjährigen, einem Jungen, dem die Welt zu Füßen lag, die Lebensgeister ausgetrieben hatte.
    Den ganzen Vormittag lang beobachtet der Antiquitätenhändler die Box, die zu ticken aufgehört hat.
    Statt hineinzusehen, schrubbt der Händler die Toilette im hinteren Teil des Ladens. Holt eine Leiter und holt die trockenen toten Fliegen von sämtlichen Lampen an der Decke. Poliert Messinggegenstände. Ölt Holzflächen ein. Schwitzt, bis sein gestärktes weißes Hemd völlig durchgeweicht ist. Er tut alles, was er nicht ausstehen kann.
    Leute aus der Nachbarschaft, langjährige Kunden, kommen und finden die Tür verschlossen. Manche klopfen an. Dann gehen sie wieder.
    Die Box wartet, um ihm zu zeigen, worauf.
    Jemand, den er liebt, muss da hineinsehen.
    Der Antiquitätenhändler hat sein Leben lang hart gearbeitet. Er treibt gute Ware zu fairen Preisen auf. Er transportiert sie hierher und stellt sie aus. Staubt sie ab. Fast sein ganzes Leben lang hat er diesen Laden gehabt, und immer wieder kommt es inzwischen vor, dass er bei Nachlassverkäufen dieselben Lampen und Tische, die er schon ein- oder zweimal verkauft hat, von neuem ersteht, um sie ein zweites oder drittes Mal zu verkaufen. Kauft sie von toten Kunden, um sie lebenden zu verkaufen. Sein Laden atmet diese Gegenstände ein und aus.
    Dieselben Stühle, Tische und Porzellanpuppen. Betten, Schränkchen und Nippsachen.
    Das alles kommt und geht.
    Den ganzen Vormittag wandert der Blick des Händlers immer wieder zu der Albtraum-Box.
    Er erledigt seine Buchhaltung. Den ganzen Tag tippt er auf den zehn Tasten der Addiermaschine herum, saldiert. Addiert und vergleicht lange Zahlenkolonnen. Sieht auf dem Papier immer dieselbe Ware kommen und gehen, dieselben Kommoden und Hutständer. Er macht Kaffee. Er macht noch mehr Kaffee. Er trinkt Kaffee, bis kein Kaffeepulver mehr in der Dose ist. Er putzt, bis alle Gegenstände im Laden, alle polierten Flächen aus Holz oder Glas sein blankes Spiegelbild zeigen. Es riecht nach Zitrone und Mandelöl. Und nach seinem Schweiß. Die Box wartet.
    Er zieht ein sauberes Hemd an. Kämmt sich die Haare.
    Er ruft seine Frau an und sagt, er habe seit Jahren Geld versteckt, in einer Blechschachtel unter dem Ersatzreifen im Kofferraum ihres Autos. Vor vierzig Jahren, als ihre Tochter geboren wurde, erzählt der Antiquitätenhändler seiner Frau, habe er eine Affäre mit einem Mädchen gehabt, das ihn in der Mittagspause immer besucht habe. Er bittet seine Frau um Verzeihung. Er sagt, sie braucht mit dem Abendessen nicht auf ihn zu warten. Er sagt, dass er sie liebt.
    Neben dem Telefon steht die Box und tickt nicht.
    Am nächsten Tag findet ihn die Polizei. Die Buchhaltung ist gemacht. Sein Laden ist in tadellosem Zustand. Der Antiquitätenhändler hat eine orange Verlängerungsschnur genommen und an den Mantelhaken im Bad geknotet. In dem gefliesten Badezimmer, wo jede Schweinerei sich leicht beseitigen ließ, hat er sich die Schnur um den Hals geschlungen und sich dann einfach fallen lassen. Er hängt zusammengesunken an der Wand. Er sitzt beinahe auf dem Fliesenboden, tot, erstickt.
    Auf dem Ladentisch neben dem Eingang steht die Box und tickt.
    Die ganze Geschichte ist in Tess Clarks Notizen nachzulesen.
    Danach gelangt die Box in Rands Kunstgalerie. Inzwischen ranken sich längst Legenden um sie, erzählt Rand seinen Zuhörern. Um die Albtraum-Box.
    Der Antiquitätenladen auf der anderen Straßenseite ist bloß noch ein großer leerer Raum mit Schaufenster.
    Damals, an diesem Abend, als Rand ihnen die Box vorführte, als Cassandra die Arme nicht zu bewegen wagte, weil sonst ihr Kleid hätte verrutschen können, in diesem Augenblick sagte plötzlich jemand: »Es hat aufgehört.«
    Das Ticken.
    Es hatte aufgehört.
    Die Leute lauschten der Stille, spitzten die Ohren nach jedem Geräusch. Und Rand sagte: »Nur zu.«
    »Und wie?«, fragte Cassandra und gab Mrs. Clark das Weinglas zum Halten. Sie hob eine Hand und legte sie auf einen der Messinggriffe. Dann gab sie Rand ihre kleine, mit Perlen bestickte Handtasche, in der sie ihren Lippenstift und etwas Bargeld für den Notfall hatte. »Mache ich das richtig so?«, fragte sie und legte die andere Hand um den zweiten Griff.
    »Jetzt«, sagte Rand.
    Mrs. Clark, die Mutter, stand ein wenig unbeholfen da. Sie hatte in jeder Hand ein volles Weinglas, und beide Gläser

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