Die Kolonie
Landstreicher erschoss, weil er glaubte, damit der Wirtschaft zu helfen. Solche Täter bezeichnet das FBI als Mörder aus Berufung.
Schwester Vigilante sagt: »Die Polizei ging davon aus, dass der Mörder ihr Feind sei.«
Manche Leute sagten, die Bowlingkugel diene der Polizei nur zur Vertuschung. Zur Ablenkung. Die Polizei wolle damit nur die Öffentlichkeit beruhigen.
Am 31. Juli war die Sonne um 20:49 Uhr sechs Grad unter dem Horizont. An diesem Abend legte sich der obdachlose Darryl Earl Fitzhugh auf der Western Avenue schlafen. Das Gesicht hatte er sich mit einer aufgeschlagenen Taschenbuchausgabe von Fremder in einer fremden Welt zugedeckt, als sein Brustkasten eingedrückt wurde, seine Lungen kollabierten und sein Herzmuskel zerriss.
Einem Zeugen zufolge kam der Mörder über die Kaimauer aus der Bucht. Ein anderer Zeuge sah das Monster schleimtriefend aus einem Kanalschacht klettern. Diese Leute sagten auch, das forensische Beweismaterial lasse auf einen harten Prankenhieb einer auf den Hinterbeinen stehenden Riesenechse schließen. Der eingedrückte Brustkorb lege die Vermutung nahe, dass ein Dinosaurier auf das Opfer getreten sei.
Andere Leute sagten, da sei etwas vorbeigeschossen, dicht über dem Boden und für ein Tier viel zu schnell. Ein irrer Amokläufer mit einem Vorschlaghammer. Eine Zeugin meinte, der Gott des Alten Testaments »geißle« uns. Ein Monster mit Riesentatzen. Schwarz wie die Nacht. Geräuschlos und unsichtbar. Jeder sah etwas anderes.
»Wichtig ist nur«, sagt Schwester Vigilante, »dass die Leute ein Monster brauchen, an das sie glauben können.«
Einen echten, furchtbaren Feind. Einen Dämon, gegen den sie sich abgrenzen können. Denn sonst mussten wir alle nur mit uns gegenseitig kämpfen.
Sie schiebt die Messerspitze unter den nächsten Fingernagel und sagt: Bemerkenswert ist, dass die Verbrechensrate sank.
In Zeiten wie diesen ist jeder Mann ein Verdächtiger. Jede Frau ein potenzielles Opfer.
Während der White-Chapel-Morde verhielt sich die Öffentlichkeit genauso. Als Jack the Ripper umging. In diesen hundert Tagen sank die Mordrate um vierundneunzig Prozent, auf exakt fünf Prostituierte. Die Kehlen aufgeschlitzt. Eine Niere halb verzehrt. Eingeweide an Bilderhaken im Zimmer aufgehängt. Die Geschlechtsorgane und ein Fötus als Souvenir mitgenommen. Die Zahl der Einbrüche sank um fünfundachtzig Prozent. Die der Überfälle um siebzig Prozent.
Schwester Vigilante sagt, niemand wollte das nächste Opfer von Jack the Ripper sein. Die Leute verriegelten ihre Fenster. Und noch wichtiger: Niemand wollte als der Mörder verdächtigt werden. Die Leute verließen nachts ihre Häuser nicht mehr.
Während der Mordserie an Kindern in Atlanta, als dreißig Kinder erwürgt, an Bäume gefesselt und erstochen, erschlagen oder erschossen wurden, lebten die meisten Bürger der Stadt in einer Sicherheit und Geborgenheit, die sie nie zuvor gekannt hatten.
Während der Mordserien in Cleveland. In Boston. In Chicago. In Tulsa. In Los Angeles ...
Zurzeit dieser Serienmorde sank in allen diesen Städten die Kriminalitätsrate. Abgesehen von der Hand voll Vorzeige-Opfer, deren abgehackte Arme und Köpfe überall aufgefunden wurden, abgesehen von diesen spektakulären Opfern genossen diese Städte damals die sicherste Zeit in ihrer Geschichte.
Der Axtmörder von New Orleans schrieb der örtlichen Tageszeitung, der Times-Picajune, dass er am Abend des 19. März niemanden töten werde, in dessen Haus er Jazz hören könne. An diesem Abend schallte durch ganz New Orleans Musik, und niemand wurde getötet.
»In einer Stadt mit beschränktem Polizeietat«, sagt Schwester Vigilante, »ist ein hochkarätiger Serienmörder ein effektives Mittel, Verhaltensveränderungen herbeizuführen.«
Im Schatten dieses furchtbaren Feindes, der da nachts durch die Straßen schleicht, jammert niemand über die hohen Arbeitslosenzahlen. Über Wassermangel. Über den Verkehr.
Wenn der Todesengel von Tür zu Tür schreitet, halten die Leute zusammen. Sie hören auf zu meckern und benehmen sich.
An dieser Stelle der Erzählung von Schwester Vigilante kommt die Direktorin Dementi vorbei und ruft schluchzend nach Cora Reynolds.
Es ist eine Sache, wenn ein Mensch getötet wird, sagt Schwester Vigilante, wenn jemand mit eingedrücktem Brustkorb krampfhaft um Atem ringt, mit verzerrtem Mund nach Luft schnappt und dann stirbt. Neben einen Menschen mit eingedrücktem Brustkorb, sagt sie, kann man sich auf der
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