Die Kolonie
dunklen Straße hinknien, und niemand beobachtet einen. Man sieht seine Augen glasig werden. Etwas ganz anderes aber, sagt sie, ist es, ein Tier zu töten. Tiere, sagt sie, einen Hund zum Beispiel, das macht uns zu Menschen. Das beweist unser Menschsein. Andere Menschen machen uns nur überflüssig. Ein Hund oder eine Katze, ein Vogel oder eine Eidechse - die machen uns zu Gott.
Tagein, tagaus, sagt sie, sind die Nebenmenschen unsere größten Feinde. Menschen, die mit uns im Stau stecken. Menschen, die im Supermarkt vor uns in der Schlange stehen. Und die Kassiererinnen im Supermarkt hassen uns, weil wir ihnen so viel Arbeit machen. Nein, einen Menschen wollten die Leute in diesem Killer nicht sehen. Aber sie wollten, dass andere Menschen sterben.
Im alten Rom, sagt Schwester Vigilante, gab es den »Editor«. Das war der Mann, der die blutigen Spiele im Kolosseum organisierte, die im Wesentlichen veranstaltet wurden, damit die Leute friedlich blieben und ein Gemeinschaftsgefühl entwickelten. Das ist der eigentliche Ursprung des englischen »editor«, mit dem man heute den Redakteur einer Zeitung bezeichnet. Unser heutiger Editor organisiert Mord, Vergewaltigung, Brandstiftung und Raubüberfälle auf der Titelseite der Tageszeitung.
Natürlich gab es einen Helden. Am 2. August, Sonnenuntergang um 20:34 Uhr, verließ die siebenundzwanzig Jahre alte Maria Alvarez das Hotel, wo sie als Nachtportierin arbeitete. Als sie auf dem Bürgersteig stehen blieb, um sich eine Zigarette anzuzünden, riss ein Mann sie plötzlich nach hinten. Im selben Augenblick rauschte das Monster vorbei. Der Mann hatte ihr das Leben gerettet. Im Fernsehen wurde er von allen gelobt, im Herzen aber hassten sie ihn.
Diesen Helden, diesen Messias brauchten sie nicht. Ein Idiot, der einem Menschen das Leben rettete, der man nicht selber war. Was die Leute brauchten, war alle paar Tage ein Opfer, etwas, das sie in den Vulkan schleudern konnten. -Unsere regelmäßige Opfergabe an das willkürliche Schicksal.
Das Ende kam dann so: Eines Nachts erwischte das Monster einen Hund. Ein kleines Fellknäuel am Ende einer Leine, die an einer Parkuhr auf der Porter Street festgebunden war; der Hund stand da und bellte, als das Stampfen näher kam. Je näher es kam, desto lauter bellte der Hund.
Ein Schaufenster zerfällt zu einem Puzzle aus Scherben. Ein Hydrant, ein gusseiserner Hydrant knickt seitlich ab und Versprüht eine zischende Fontäne. Ein Fenstersims zerstiebt in einer Wolke aus Staub und Betonbrocken. Eine Parkuhr kriegt einen Treffer ab, dass die Münzen in ihr rappeln. Ein Parkverbotsschild wird von seiner Stange gerissen und kracht klappernd auf die Straße. Die Stange summt noch lange nach dem unsichtbaren Schlag.
Noch ein Stampfen, und das Bellen hörte auf.
Nach dieser Nacht schien das Monster verschwunden. Eine Woche verging, und die Straßen waren immer noch leer, wenn es dunkel wurde. Ein Monat verging, und die Redakteure fanden neue Horrorgeschichten für die Titelseiten ihrer Zeitungen. Kriege gab es schließlich immer. Neue Varianten von Krebs.
Am 10. September war Sonnenuntergang um 20:02 Uhr. Curtis Hammond kam von seiner wöchentlichen Gruppentherapiesitzung in der West Mill Street 257. Er lockerte gerade seine Krawatte, als es passierte. Er machte noch den obersten Kragenknopf auf. Es geschah, als er sich gerade umwendete und die Straße hinunterschaute. Er lächelte, spürte den warmen Wind in seinem Gesicht, schloss die Augen und atmete tief durch die Nase ein. Vor einem Monat hatte ihn jeder auf der Titelseite der Zeitung bewundern können. In den Fernsehnachrichten. Er hatte eine Nachtportierin vor dem Monster gerettet. Vor der Geißel Gottes.
Er war der Held, den wir nicht brauchten.
Am 10. September endete die bürgerliche Dämmerung um 20:34 Uhr, und Sekunden später drehte sich Curtis Hammond um, weil er etwas gehört hatte. Mit offenem Hemdkragen blinzelte er in die Dunkelheit. Seine Zähne blitzten auf, als er lächelnd sagte: »Hallo?«
14
Wir finden Genossin Snarky auf dem Teppich vor einem Gobelinsofa im Foyer des zweiten Rangs. Ihr blauweißes Gesicht umrahmt vom Kissen ihrer harschen grauen Perücken. Die Perücken übereinander gelegt und zusammengesteckt. Nichts an ihr bewegt sich. Ihre Hände sind Knochen, wie Perlen, auf Sehnen gezogen im Fleisch ihrer schwarzen Samthandschuhe. Die Stränge an ihrem dünnen Hals sehen aus wie Fäden von Spinnweben aus Haut. Ihre Wangen und die geschlossenen Augen
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