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Die Kometenjäger: Roman (German Edition)

Die Kometenjäger: Roman (German Edition)

Titel: Die Kometenjäger: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Deckert
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ein Bergsteiger am Gipfel. Es fühlte sich jedes Mal an, als sei ich selbst der Entdecker – und in gewisser Weise stimmte das ja auch, denn niemand hatte mir den Weg gezeigt, und niemand sonst war am Ziel. Es war mein Sternhaufen! Wahrscheinlich betrachtete ihn gerade jetzt niemand außer mir. Und doch blieb das Objekt, das durch ein so simples wie unbegreifliches Wunder direkt vor meinem Auge schwebte, Lichtjahre von mir entfernt, unüberbrückbar weit weg, und was sich im Inneren des Teleskops abspielte, war nicht direkt ein Kontakt, sondern wortwörtlich eine Spiegelung, ein Trick, der die Welt näher rückte und den Beobachter zugleich von ihr isolierte und auf sich selbst zurückwarf. Die Erfahrung dieser Isolation war so intensiv, dass sie mir manchmal einen Schauer über den Rücken jagte. Automatisch stellte ich das Dobson immer in der Nähe meines Wagens auf und ließ das Radio laufen, um der Einsamkeit dieser stockdunklen Kuhwiesen etwas entgegenzusetzen, eine Erinnerung an meine Erdenexistenz, die verhindern sollte, dass ich mich selbst in einem Wirbel aus Staub und auseinanderstrebenden Stoffen auflöste.
    Tom sagte, ich müsse mir angewöhnen, am Teleskop mit Bleistift und Notizblock zu arbeiten. In früheren Zeiten hätten alle beobachtenden Astronomen gezeichnet. Und an meinem zweiten Abend in seinem Observatorium, begann ich zu verstehen warum: Zeichnen war nicht nur hilfreich, um das Gesehene zu fixieren, es half auch, mehr zu sehen – oder »tiefer«, wie Tom sich ausdrückte. Die Hexenfinger des Cirrus-Nebels wurden unter meinen Bleistiftstrichen plötzlich klarer, bekamen Äderchen, verzweigt und ineinander verschlungen wie Kabelstränge aus Licht. Immer wieder radierte ich grobe Schraffuren aus, ersetzte sie durch Details, ließ den Bleistift arbeiten, bis selbst die allerflüchtigsten Schemen vor meinen Augen Bilder geworden waren. Mehr als einmal dachte ich im Angesicht eines kümmerlichen Nebelfleckchens, dass es die Mühe nicht wert sei. Doch wenn ich trotzdem den Stift ansetzte, gelang es mir, meine Augen auf rätselhafte Art zu disziplinieren, den Fleck im Kopf zu vergrößern und eine Form zu sehen, die sich abbilden ließ. Nie zuvor hatte ich gelernt, dass man seine Augen trainieren kann wie einen Muskel. Und war es nicht so, dass man einen Muskel, den man zum ersten Mal trainierte, in diesem Moment überhaupt erst zu spüren begann?
    Oft erzählte er mir von den Nachfolgern Messiers, den Kometenjägern, die in seinen Schilderungen so etwas wie die Samurai der Astronomie waren. Menschen, die zwischen Millionen von Punkten den einen fast unsichtbaren Punkt suchten und fanden, dessen Leuchten sich unterschied. Wenn ich es richtig verstanden hatte, gehörten Kometen zu unserer Sonne und umkreisten sie, genau wie wir – doch ihre Bahnen konnten sie so weit hinaustragen, dass die meisten von ihnen nur alle paar tausend oder zehntausend Jahre unser Blickfeld streiften. Man konnte also nicht einmal sagen, wie viele da draußen noch unentdeckt warteten, und wann sich wieder einer von ihnen offenbarte. Neue Kometen fielen einfach eines Tages zu uns herab, aus entlegenen Regionen, die man die »Oort’sche Wolke« oder den »Kuiper-Gürtel« nannte.
    Sie zu suchen, war in etwa so, als würde man jeden Tag einen überfüllten Bahnhof besuchen, um dort auf die Ankunft eines Verwandten zu warten. Aber man wusste nicht, wie er aussah und an welchem Tag, geschweige denn an welchem Bahnsteig er ankommen würde. Und wenn man ihn nicht sofort fand, stieg er mit einem Fremden ins Taxi. Aber selbst wer einen Kometen gefunden hatte, konnte noch enttäuscht werden. Manche von ihnen leuchteten in großer Entfernung hell. Und dann wurden sie beim Näherkommen nicht heller, sondern dunkler und schwächer, sie brannten zu früh aus, und mit ihnen verblasste auch der Glanz ihrer Entdecker.

KAPITEL 8

    N atürlich hatte Vera Recht. Hätte Tom und mir an all den Abenden jemand zugehört, dann hätte er es durchaus seltsam finden müssen, worüber wir sprachen und worüber nicht. Ich wusste zum Beispiel eine Menge über Toms Beziehung zu Kleinplaneten, wohingegen ich über seine Beziehungen zu Frauen fast nichts wusste. Ich wusste, was er von Reflexionsnebeln hielt, aber ich wusste nicht, was er von seinem Vater hielt. Ich hatte ihn nie gefragt, ob er seine Mutter vermisste, die starb, als er sehr jung gewesen war.
    Doch der Zufall wollte es, dass ich eines Nachmittags im November Antworten auf einige der nicht

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