Die Kommissarin und der Tote im Fjord
Stimme, um die Nachbarn nicht zu stören: »Lena bekommt einen Anruf. Ein Typ sagt, er hätte Informationen im Fall Sveinung Adeler. Er behauptet, er sei auch auf dem Rathauskai gewesen und habe gesehen, was in der Nacht zum Donnerstag, dem 10. Dezember, geschah. Lena bleibt kalt und meint, wir hätten es mit einem PR-geilen Arschloch zu tun, das auf diese Weise in die Zeitung kommen will. Sie sagt, er solle ins Präsidium kommen und erzählen, was er zu erzählen hat. Da legt er auf. Lena denkt: so what . Aber dann rede ich mit einem anderen Junkie. Und der erzählt mir, dass ein Kumpel von Stig Eriksen häufig mit den beiden herumgehangen hat – mit Stig und Nina – und dieser Typ würde irgendwas herumlabern, dass er was wüsste über den Mann, der da am Kai aus dem Wasser gezogen wurde und dass die Bullen ihren Job nicht ordentlich machten. Das hat die Situation etwas verändert. Höchstwahrscheinlich haben wir einen lebenden Zeugen für den Mord an Sveinung Adeler. Sobald wir den Mann haben, ist der Fall geklärt. Es geht nur darum, ihn ausfindig zu machen. Er wohnt offenbar im Hospiz, wenn er nicht auf der Straße schläft. Möglicherweise sage ich zu früh zu viel. Aber wir haben ihn morgen, und sobald wir ihn haben, haben wir einen Augenzeugen. Zusammen mit dem Material, das wir schon gesammelt haben, bin ich hundert Prozent sicher, dass wir im Laufe des morgigen Tages eine Verhaftung vornehmen können.«
Der Fahrstuhl klingelte.
Gunnarstranda griff nach dem Türgriff, ohne ihn zu öffnen.
»Wer ist es? Wie heißt er?«
»Er heißt Dag Enoksen.«
In dem Moment als er das sagte, wollte Rise schon wieder in seiner Wohnung verschwinden.
Gunnarstranda hob die Stimme: »Du kannst beruhigt sein. Die Szene am Bahnhof ist klein. Lena findet den Mann, vielleicht schon heute Nacht.«
Fartein Rise drehte sich in der Tür noch einmal um.
Gunnarstranda öffnete die Fahrstuhltür. »Wenn du dir selbst einen Gefallen tun willst«, sagte er und versuchte, Rises Blick einzufangen, »dann frag deinen Journalistenfreund, warum er dir ins Gesicht gelogen hat. Frag ihn, warum er den Drohbrief geschrieben hat. Frag, warum er ausgerechnet Aud Helen Vestgård bedroht hat und warum er den Brief mit dem Namen dieser Frau unterzeichnet hat, die er überhaupt nicht kannte und noch nie gesehen hat!«
Rise antwortete nicht. Er schloss die Tür.
Doch, dachte Gunnarstranda. Krankes Kind hin oder her. Der Mann kann einem wirklich leidtun.
MITTWOCH, 23. DEZEMBER
1
Lena hob den Plastikbecher und probierte den Gløgg. Er schmeckte nach Schulentlassungsfeier: eine lauwarme Gewürzmischung, an deren Oberfläche ein paar gehackte Mandeln und Rosinen schwammen. Vor Weihnachten gibt es überall Gløgg. In Kindergärten, Schulen, bei der Arbeit, in Geschäften. Man kann sich in Oslos Einkaufsstraßen kaum umdrehen, ohne dass jemand versucht, einem dieses lauwarme, süße Zeugs anzudrehen. Klar bin ich jetzt ziemlich negativ, dachte sie. Aber irgendwas an den Mandeln verursachte ihr einen trockenen Hals. Vielleicht war sie einfach nur allergisch?
Der junge Typ mit dem Frank-Sinatra-Hut und der Piratenhose fand die Stille offensichtlich quälend. Er saß vornübergebeugt da und holte tief Luft, als suche er verzweifelt nach einem Thema. Er wirkte etwas zu zart, um ein Hospiz für obdachlose Junkies zu leiten. Aber Lena kannte ihn nicht. Wahrscheinlich machte er seinen Job sehr gut.
Lena schlürfte noch etwas von dem süßen Trunk und lehnte dankend ab, als der junge Mann sich gerade hinsetzte und sie bat, sich doch bitte an den Pfefferkuchen zu bedienen.
Der Geschmack gekaufter Pfefferkuchen erinnerte auch an Schulabschlussfeiern. Theaterstücke einstudieren, sich in einer Rolle deplatziert fühlen, ein selbst genähtes Kostüm tragen, das einem nicht passt, blöde Sätze herunterleiern, in dem Bewusstsein, dass jemand, den man liebt, loyal im Dunkel des Festsaales sitzt. Das waren Anforderungen an die Familienkonvention.Komm zu Schulabschlussfeiern, trinke lauwarmen Gløgg und mache ein Foto von unseren Hoffnungsträgern, die gerade Josef oder Maria oder den Engel Gabriel darstellen.
Lena bekam nie die Rolle der Maria oder des Engels. Rotes Haar und Sommersprossen waren eine schlechte Voraussetzung für die Rollenbesetzung. Nicht einmal einen der drei Könige aus dem Morgenland konnte sie vorweisen. Sie bekam gerne die Rolle von Schafhirte 1 oder Schafhirte 2. Sie war der Wirtshausbesitzer gewesen, der Maria und Josef die Herberge
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