Die Kommissarin und der Tote im Fjord
verwehrte. Meistens stand sie mit Pfeifenputzer-Heiligenschein auf dem Kopf in der Herde der Evangelisten und sang Ihr Kinderlein kommet .
Wenn sie ihre Mutter fragte, konnte die sich an all das nicht erinnern. In der Regel war Lenas Vater derjenige, der gekommen war und das Foto gemacht hatte.
War das das Geheimnis hinter dem Unbehagen? Dem Verlust? Die Tatsache, dass sie keine Erinnerungen mehr mit ihm teilen konnte? Sie schob den Gedanken beiseite.
Eines stand allerdings fest: Es war mal wieder der Tag vor Weihnachten. Sie hatte die meisten Weihnachtsgeschenke gekauft, aber noch nichts für ihre Mutter.
Wenn sie das am Nachmittag schaffte, würde sie gleich mit dem Weihnachtsbaum bei Mama vorbeifahren, damit die ihn rechtzeitig vor dem großen Tag schmücken konnte.
Morgen würden sie von früh bis spät zusammen sein. Gemeinsam zum Friedhof gehen und eine Kerze auf Papas Grab stellen. Danach würden sie in Mamas Wohnung gehen und die Hammelrippchen fertig machen. Die hatte sie Gott sie Dank schon gekauft, geräucherte und gesalzene Hammelrippchen von Schafen, die garantiert frei in den Bergen gegrast hatten. Jetzt musste sie das Fleisch nur noch am Abend in Wasser legen. Das durfte sie auf keinen Fall vergessen.
Lena sah auf die Uhr. Außerdem durfte sie nicht vergessen,Steckrüben für das Steckrübenmus zu kaufen. Das würde sie auch morgen noch schaffen. Aber sie mussten geschält und geschnitten werden, bevor die immer gleichen Sängerknaben morgen mit ihrem Gesang Weihnachten einläuteten – sonst käme Mama in Stress.
Auf der Fensterbank stand ein Radio. Modern, mit einer digitalen Uhr ausgestattet. Lena stellte fest, dass es noch nicht einmal fünf Uhr nachmittags war. Sie hatte also immer noch viel Zeit. Die Geschäfte hatten am Tag vor Heiligabend bis spät abends geöffnet.
Der junge Mann mit dem Frank-Sinatra-Hut hielt die Stille nun wirklich nicht mehr aus und schaltete das Radio ein.
Glockenläuten. Erst ertönten Streicher, dann erfüllte Jussi Björlings samtene Stimme den Raum. Er sang von der heiligen Nacht. Da gab es kein Halten mehr.
Der Junge erschrak so sehr, dass er fast vom Stuhl fiel. »Was ist los?«
Lena antwortete nicht. Sie war nicht in der Lage zu sprechen.
»Tut Ihnen was weh?«
Lena schüttelte den Kopf. Es stürzte aus ihr heraus. Tränen, Rotz. Sie stand auf, ging zum Radio und schaltete es aus. Die Stirn an die Wand gedrückt, stand sie da und schluchzte.
Sie hörte den jungen Mann unruhig auf und ab gehen. Drehte sich um. Er sah blass und verstört aus.
Lena richtete sich auf. »Haben Sie eine Serviette oder so was?«, presste sie hervor.
»Ja, klar.« Der Junge drehte sich schnell um die eigene Achse und verschwand aus dem kleinen Büro. Kam wieder zurück – mit einer Rolle Küchenpapier in der Hand.
Lena nahm sie entgegen. Wischte sich die Tränen aus den Augen und putzte sich die Nase. Sie hatte es noch nie ertragen können, wenn Jussi Björling Papas Lied sang. Das war einfach so. Aber sie war niemandem eine Erklärung schuldig.
Sie setzte sich wieder.
Auch der junge Mann setzte sich und sah sie unsicher an. »Hab auch schon von anderen gehört, die einfach so anfangen zu weinen. Ganz ohne Grund irgendwie. Muss schrecklich sein.«
Lena sagte nichts. Saß nur da und schniefte. Dann warf sie einen Blick auf die Uhr. Ihre Geste inspirierte den jungen Mann, das Thema zu wechseln.
»Die Zeit vergeht«, sagte er.
Wieder erfüllte Stille den Raum.
»Ja ja«, sagte der Junge. Er wirkte plötzlich nervös und schielte unsicher zu ihr herüber. Wusste nicht wohin mit seinen Händen. Er nahm seinen Hut ab und spielte damit.
Lena kam langsam wieder zu sich. »Cooler Hut«, sagte sie und wischte sich noch einmal mit dem Papier unter den Augen entlang. »Wo haben Sie den gekauft?«
»In Kiel, im Einkaufszentrum, Karstadt.«
Lena nickte. Diese Sängerknaben, dachte sie, die konnte sie ertragen. Stille Nacht, Oh du fröhliche , sogar das Lied vom Weihnachtsstern, der über dem Haus der Hebamme leuchtete. Aber nicht O Holy Night .
Das hatte er gesungen, in der Kirche, mit dem ganzen Chor hinter sich. Der Gedanke und die Erinnerung riefen einen weiteren Schluchzer hervor. Tränen drängten aus ihren Augen.
Der Junge mit dem Hut zuckte nervös.
Sie konnte auch den nächsten Schluchzer nicht unterdrücken. Dann holte sie tief Atem.
Denk an etwas anderes! Denk an ein Thema ohne Gefühle. Denk an die Ereignisse in Steffens Wohnung. Das Gefühl, als du die
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