Die Kommissarin und der Tote im Fjord
die Risse im Hemd und auf der Haut rührten von einem Gerät wie einem Bootshaken oder einem ähnlichen Werkzeug her, das jemand in seine Kleidung eingehakt hat.«
Lena versuchte sich das vorzustellen: Sveinung Adeler strampelt im Wasser, und jemand schiebt einen Bootshaken unter seinen Hemdkragen.
»Um ihn herauszufischen?«, fragte sie.
»Oder um ihn unter Wasser zu drücken«, sagte Schwenke.
Sie wechselten einen Blick. Lena verfolgte den Gedanken nicht weiter. »Ich kann mir nur einfach nicht vorstellen, dass er aus einem Boot ins Wasser gefallen ist«, sagte sie.
»Ich glaube auch nicht, dass er von einem Boot gefallen ist. Ich möchte, dass Sie sich das hier ansehen«, sagte Schwenke und zeigte ihr den Bericht der Spurensicherung. »Ich habe nach einem Bootshaken gesucht. Aber gefunden habe ich das hier.«
Lena las: »254 cm Fichtenlatte, 1 cm x 8 cm.« Sie sah auf. »Was ist das?«
»Eine Latte von zweieinhalb Metern Länge«, sagte Schwenke trocken. »1 cm dick und 8 cm breit. Die Latte befand sich auf dem Rathauskai 1. Das ist der Kai, der direkt unterhalb derFestung liegt. Die Spurensicherung meint, dass er dort ins Wasser gefallen ist. Und sie haben notiert, dass dort auch die Latte lag.«
Lena musste sofort nachhaken. »Sie glauben, dass jemand mit der Latte versucht hat, den Mann unter Wasser zu drücken, und dass die Latte die Risse im Hemd und die Verletzungen in seinem Nacken verursacht hat?«
Schwenke antwortete nicht. Wie immer, wenn er mit schwerwiegenden Schlussfolgerungen konfrontiert wurde, schwieg er nachdenklich.
»Ich werde in meinem Bericht schreiben, dass er ertrunken ist, dass aber die Risse im Hemd und die Verletzungen im Nacken mit großer Wahrscheinlichkeit entstanden sind, nachdem er ins Wasser fiel und bevor das Herz aufhörte zu schlagen. Mehr nicht. Was ich allerdings täte, wenn ich Sie wäre, ist, das Labor zu bitten, die Latte sehr gründlich zu untersuchen und mit dem Hemd abzugleichen. Wenn stimmt, was ich glaube, dann hängen möglicherweise Fasern seines Hemdes an der Latte. Wenn Sie Fasern seines Hemdes an der Latte finden, dann haben Sie den Beweis dafür, dass jemand auf dem Kai war, als der Mann ertrank. Bei der Wassertemperatur wäre Adeler ungefähr nach einer Minute bewusstlos geworden. In der Situation hat also jemand eine Latte gegen seinen Nacken gedrückt, so dass sein Hemdkragen gerissen ist. Mit welchem Ziel? Will mich dazu nicht weiter äußern, aber es war garantiert jemand da, jemand, der diese Latte in den Händen hatte.«
Lena schloss die Augen und öffnete sie wieder. Sie blickte direkt auf die weiße Leiche.
Sekundenlang sah sie sich selbst auf solch einem Seziertisch liegen. Ein Kadaver, ein geschlachtetes Tier, in dem dieser Zyniker mit Wonne herum schnitt. Eine Niere für den Meistbietenden – oder soll’s eine Leber sein? Gebraucht, in gutem Zustand, 33 Jahre alt und vom Besitzer gut gepflegt. Wenig missbraucht,abgesehen von Piccolosektflaschen und zwei Paracetamol bei Fieber, ein kleiner Rabatt wäre möglich – wegen heftiger Strahlenbehandlung?
»Jemand hat diese Latte benutzt«, wiederholte Schwenke.
»Ich habe gehört, was Sie gesagt haben«, sagte Lena. »Jetzt kommt es darauf an, was das Labor dazu sagt.«
8
Auf dem Tresen stand ein Weihnachtsmann. Strickpullover, Knickerbocker aus Cordsamt, rote Strümpfe und Holzschuhe. Der Weihnachtsmann hatte keinen Bart – also war dies nicht ein Exemplar des Mannes, der am Nordpol wohnte, sondern ein norwegischer Stallwichtel. Der Wichtel hob den linken Arm und öffnete den Mund, indem er den Unterkiefer fallen ließ, der wie bei einer Marionette eingehängt war. Er drehte den Kopf nach links und sagte Ho! Ho! Ho!, wobei der Kiefer auf und zu klappte. Der starre Blick ließ den Wichtel wild und, wie Lena fand, irgendwie erschreckend aussehen.
Die Frau hinterm Tresen schob ein Glas Bier zu ihr herüber. Der Wichtel senkte den Arm und hätte beinah das Glas umgeworfen. Lena brachte es in Sicherheit und trat gleichzeitig einen Schritt zur Seite. Die Barkeeperin schob ihr das Glas hinterher.
»Das ist nicht meins, ich hab nichts bestellt.«
»Das geht auf mich«, rief eine Stimme von rechts.
Sie drehte sich langsam um. Steffen Gjerstad hatte seine Winterkleidung abgelegt und posierte nun in einem engen Jackett und sorgfältig verschlissenen Jeans – Hugo Boss, dachte sie, oder Dolce & Gabbana. Schlank, langbeinig und selbstsicher lehnte er am Tresen. Er hatte die Hände gefaltet und
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