Die Kommissarin und der Tote im Fjord
versagte.
Nur ein einziger klarer Gedanke war in ihrem Kopf: Weg hier! Sie bohrte ihren Kopf in den Schnee, aß Schnee, bohrte die Augen in den Schnee.
Als sie wieder an die Oberfläche kommt, ist es kein langsames Aufsteigen an eine helle Wasseroberfläche. Sie öffnet einfach die Augen. Sie brennen nicht mehr so stark, der Schmerz ist eher glühend, wie ein schwerer Puls in einer heißen Brandwunde.
Sie sieht, dass er das Klebeband, das ihre Hände fesselt, durchschneidet. Was hat er vor?
Warum schneidet er ihre Hände frei?
Sie steht aufrecht. Sie hat zwei Beine, zwei Arme und zehn Krallen, und sie benutzt sie. Tritt, kratzt. Sie fällt, und er greift nach ihrem Fuß. Sie wird über den Schnee gezerrt, ihre Jacke wird hochgeschoben, der nackte Rücken schabt über Eis und Schnee.
Sie nimmt den Geruch von Salz und Tang wahr. Hört Wellen schlagen und begreift, was geschehen wird.
Er zieht sie an den Abgrund, unter dem das Meer wartet.
Sie tritt um sich. Er zuckt zusammen, sein Griff lockert sich, und sie rollt. Der Kopf schlägt auf den Felsen, und sie hat Haare im Mund, als sie auf das Meer zu rollt, das nur darauf wartet, sie zu verschlingen, während ihre Hände panisch nach etwas greifen, an dem sie sich festhalten kann, und die Finger sich an einen dünnen Zweig klammern, der das Rollen ihres Körpers aufhält.
Sie ringt nach Atem.
Dort unten lechzen die Wellen nach ihr.
Plötzlich wird die Luft aus ihren Lungen geschlagen, und sie stöhnt erneut auf. Sieht den Schatten des Stiefels, der zutritt. Jetzt sterbe ich, denkt sie. Ich sterbe, aber nicht allein. Sie lässt den Zweig los und greift mit beiden Händen nach seinem Stiefel. Sie packt zu. Klammert sich an seinen Unterschenkel. Er versucht sie abzuschütteln, aber sein Unterschenkel ist das Einzige, was sie am Leben hält. Er ist stark. Sein Fuß hebt sie hoch. Sie klammert sich fest. Beim nächsten Mal bekommt er den Fuß nicht mehr so hoch. Sie hält fest, nutzt ihr eigenes Gewicht.
Fast geht ihr die Kraft aus.
Da geschieht etwas.
Sie spürt, dass er die Kontrolle über seinen Körper verliert. Er kippt. Sie zerrt an ihm und hört, wie der schwere Körper auf dem Felsen aufschlägt.
Sie rutscht auf das Meer zu.
Bemerkt dann plötzlich, dass sie nicht mehr rutscht. Sie liegt still da und streckt die Zehen. Sie sind auf einen Vorsprung getroffen, auf irgendetwas. Sie kann es nicht sehen.
Wo ist er?
Sie sieht nichts. Hört nur die Wellen gegen die Felsen schlagen.
Er ist da unten, irgendwo unter ihr. Sie tastet, findet einen Felsspalt und hakt ihre Fingerspitzen dort ein. Hält sich fest und versucht, den glatten Felsen hinunterzuschauen.
Langsam graut der Morgen. Sie erkennt vage den Absatz, auf dem ihre Füße ruhen. Ein kleiner Felsvorsprung, ein unregelmäßiger Absatz, von dem Kinder an warmen Sommertagen ins Wasser springen können. Sie muss weiter hinunter und greift mit erfrorenen, tauben Fingern nach einem anderen Felsspalt. Sie denkt nicht, handelt nur.
Doch dann gewinnt die Schwerkraft. Ihr Körper beginnt zu rutschen. Ihre Jacke wird hochgezogen. Diesmal bekommt es der Bauch mit dem Felsen zu tun, während sie auf das Meer und den Tod zu rutscht. Doch plötzlich hält ihr Körper inne. Ihre Füße haben einen weiteren Felsvorsprung gefunden. Die Gischt der Wellen spritzt ihr Haar und ihr Gesicht klatschnass.
Sie ruht sich aus und späht hinunter.
Er ist nicht zu sehen.
Was ist passiert?
Warum hat er das Gleichgewicht verloren?
Wo ist er?
Sie hört nichts. Steht lange so da.
Es wird immer heller. Aber sie sieht niemanden, hört niemanden.
Sie spürt Hunger. Sie ist nass, kalt und steif. Aber sie will nicht von den Wellen verschlungen werden.
Ich will nicht ertrinken, denkt Lena. Ich werde es schaffen, und danach werde ich wieder gesund. Ich werde den beschissenen Knoten in meiner Brust zu einem Nichts zusammenquetschen. Ich werde ihn besiegen, egal ob es Schmerzen kostet, die noch viel stechender und grässlicher sind als diese hier.
Sie hebt den rechten Fuß und sucht nach Halt. Jetzt der linke Fuß. Drückt, rutscht, schiebt sich nach oben.
Ganz gesund, denkt sie. Erst das hier schaffen, und dann werde ich ganz gesund.
Sie klammert sich an den Felshang, besessen von dem einzigen Gedanken, sich noch einen halben Meter nach oben zu ziehen. Der linke Fuß findet Halt, sie verlagert das Gewicht darauf und hebt sich noch einen halben Meter weg von den Wellen. Ihre steifen Finger tasten nach dem Zweig, der sie schon
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