Die Komplizin - Roman
seiner Begeisterung anstecken lassen, doch während ich nun meine eigene Gitarre holte und in sein Spiel einstimmte, hatte ich eher das Gefühl, im Fernsehen einen begeisterten Menschen zu beobachten. Mir war, als befände ich mich gar nicht im selben Raum wie er.
Ich versuchte mir einzureden, dass der ganze Albtraum vorbei war – zumindest so vorbei, wie er überhaupt vorbei sein konnte. Endlich ergab alles einen Sinn. Neal hatte für mich schrecklich viel riskiert, und auf ihre ganz eigene Weise hatte Sonia das auch getan. Im Grunde hatte sie es sogar ein zweites Mal getan, als sie an den Tatort zurückkehrte, um mich aus meiner Hoffnungslosigkeit zu befreien. Aber das war
noch nicht alles. Seit ich die Wahrheit kannte, ging mir ein bestimmter Gedanke nicht mehr aus dem Kopf: Musste ich Sonia auf einer ganz anderen Ebene womöglich sogar dankbar sein? Hatte sie letztendlich nicht genau das getan, was ich hätte tun sollen, wenn ich mutig genug gewesen wäre? Immerhin hatte ich zugelassen, dass Hayden mich schlug, sich dafür entschuldigte und mich erneut schlug. Trotzdem hatte ich ihn nicht verlassen. Was hätte ich gesagt, wenn ich von einer Person gehört hätte, die sich so verhielt? Wahrscheinlich hätte ich sie als schwach und erbärmlich bezeichnet. Hätte ich, wenn es um eine Freundin von mir gegangen wäre, den Mut besessen, etwas dagegen zu unternehmen und ihr so tatkräftig zu helfen, wie Sonia mir geholfen hatte?
Mit dem anderen Teil meines Gehirns – dem Teil, der automatisch funktionierte – musizierte ich mit Joakim, nickte genau wie er im Takt und überlegte, ob unsere Gruppe mit dem Song zurechtkommen würde. Dass ich dennoch nicht richtig loslassen konnte, lag an den vertrauten Gründen: Noch immer sah ich Hayden vor meinem geistigen Auge tot auf dem Boden liegen. Diesen Anblick würde ich nie vergessen. Genauso wenig würde ich jemals vergessen, wie wir ihn eingewickelt und wie Müll aus dem Haus geschafft hatten. Ganz zu schweigen von dem Moment, als er in das dunkle, kalte Wasser hinabgeglitten war. All diese Erinnerungen würde ich nie wieder loswerden. Trotzdem war es vorbei, und ich kannte die Wahrheit – auch wenn mir diese Wahrheit keine Ruhe ließ.
Ich konnte es mir genau vorstellen. Als Sonia ihn aufforderte, in Zukunft die Finger von mir zu lassen, hatte Hayden zunächst bestimmt mit Bestürzung reagiert, doch dann war er wütend geworden. Seine Schuldgefühle und das Wissen, dass er im Unrecht war, hatten seine Wut vermutlich noch verstärkt. Er hatte zu schreien begonnen, und als ihm die Worte ausgingen, hatte er zugeschlagen. Ich wusste, was
in ihm vorgegangen war: Er würde dieser selbstgerechten Kuh schon zeigen, was Männer dazu trieb, gewalttätig zu werden. Aber Sonia war nicht wie die anderen. Sie ließ sich nichts gefallen, sondern wehrte sich. Hayden war ein Feigling. Seine Gewalt richtete sich gegen Menschen, die sich nicht wehrten. Für mich stand mittlerweile fest, dass Hayden so etwas durch seine Art regelrecht herausgefordert hatte. Die Frage war nur gewesen, wann ihm jemand wie Sonia begegnen würde.
Joakim lächelte mich an. Er begriff, dass ich seine Idee gut fand und wir diese lustige alte Bluegrass-Nummer, die er irgendwo heruntergeladen hatte, tatsächlich spielen würden. Als ich an einer besonders kniffligen Stelle hängen blieb, musste er lachen.
»Hast du immer noch vor, erst später mit deinem Studium zu beginnen?«, fragte ich.
»Du meinst jetzt, wo Hayden tot ist und keinen schlechten Einfluss mehr auf mich hat?«
»So ungefähr.«
»Ja, ich bleibe dabei. Mein Leben lang habe ich alles Mögliche getan, weil meine Eltern es für richtig hielten. Das Ganze hat längst nichts mehr mit Hayden zu tun, sondern nur noch damit, was für mich richtig ist.«
»Gut.«
»Trotzdem werde ich ihn nie vergessen.«
»Das ist ebenfalls gut«, entgegnete ich. »Er hat dich sehr geschätzt.«
»Wirklich?«
»Wirklich.«
Joakim hatte es plötzlich sehr eilig, seine Sachen zusammenzupacken. Wenn ich mich nicht täuschte, schimmerten in seinen Augen Tränen.
»Du meinst also, wir bekommen das hin?«, fragte er, während er seinen Gitarrenkoffer zuschnappen ließ.
»Ich finde, es klingt gut«, antwortete ich. »Wenn wir es
schaffen, für Amos einen möglichst einfachen Part zu schreiben, dürfte es keine Probleme geben.«
»Es wird seltsam sein, das alles ohne Hayden zu Ende zu bringen«, meinte er. »Wahrscheinlich geht es dir schon schrecklich auf
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