Die Komplizin - Roman
mich trafen. In seinen Augen lag ein wilder Ausdruck, und seine Pupillen wirkten geweitet. Plötzlich erinnerte ich mich – so lebhaft, als würde es gerade erst passieren – an den Abend, als mein Vater meiner Mutter einen so heftigen Kinnhaken verpasst hatte, dass er ihr dabei zwei Zähne ausschlug. Diese lange zurückliegende Geschichte schien nun mit der Gegenwart zu verschmelzen, so dass ich ein paar Sekunden lang fast das Gefühl hatte, wieder ein kleines Kind zu sein, das versuchte, sich dem massigen Mann mit den erhobenen Fäusten und dem hässlich verzerrten Gesicht in den Weg zu stellen und ihm durch lautes Schreien Einhalt zu gebieten. Tatsächlich hörte ich mich rufen: »Nein! Nicht!«
Haydens Faust kam auf mich zu. Mir schoss durch den Kopf: Ich muss diesen Mann verlassen. Ich darf ihn nicht wiedersehen. Er ist gefährlich für mich. Inzwischen hatte er Tränen in den Augen. Wie seltsam, dass er bereits in diesem Moment unter dem litt, was er zu tun im Begriff war. Noch während ich versuchte, den Kopf einzuziehen und mein Gesicht mit den Händen zu schützen, dachte ich: Er ist so ein unglücklicher Mensch. Mir ist noch nie zuvor ein so unglücklicher Mensch begegnet. Noch erschreckender als das, was er gleich tun würde, war für mich die plötzliche Angst, dass ich ihn liebte. Dass ich in ihn verliebt war, und das bis über beide Ohren.
Seine Faust traf mich mit voller Wucht am Brustkorb und
dann seitlich am Kopf. Ich taumelte nach hinten, krachte gegen die Arbeitsplatte und fegte dabei meine Kaffeetasse auf den Boden, wo ich sie mit einem lauten Knall zerbarst. Meine Knie gaben unter mir nach. Während ich verzweifelt versuchte, mich auf den Beinen zu halten, packte er mich am Hals und schüttelte mich. Ich bekam weder Luft, noch konnte ich schreien. Der Schmerz zuckte von meinem Hals bis zu meinen Augen, und plötzlich sah ich Farben, dunkle Blüten in Blau, Grün und Rot. Ich knallte mit dem Kopf auf den Boden. Plötzlich hatte ich Milch im Haar und Porzellanscherben unter der linken Wade. Aus einer Schnittwunde tröpfelte Blut. Über mir hing drohend das Gesicht von Hayden, der einen klagenden Schrei ausstieß. Dann kam sein halb geöffneter Mund auf mich zu, als wollte er mich küssen oder beißen. Leidenschaft und Hass liegen oft nahe beieinander. Ich fragte mich, ob ich wohl sterben würde.
Plötzlich aber lockerte sich der Griff seiner Hand, und seine Miene verlor an Härte. Er verzog das Gesicht und ließ mich los. Die Farben vor meinen Augen verblassten, und ich bekam wieder Luft, auch wenn jeder Atemzug schmerzhaft war. Ich blieb ganz still liegen. Hayden stand mittlerweile über das Waschbecken gebeugt, als müsste er sich übergeben. Er atmete schwer, und hin und wieder drang ein Stöhnen aus seiner Kehle.
»Das war’s.« Ich konnte nur krächzen. Das Sprechen tat mir ebenso weh wie das Schlucken. Mit einer Hand berührte ich vorsichtig meinen Hals, der sich geschwollen und wund anfühlte. Am Kopf hatte ich eine dicke Beule, und das Blut an meinem Bein kitzelte, als würde eine Fliege über meine Haut krabbeln. Allein schon der Gedanke, mich jetzt hochrappeln zu müssen, war mir zu viel. Ich schloss die Augen und tastete nach den Enden meines Bademantels, um mich zu vergewissern, dass ich einigermaßen bedeckt war. Ich wollte in diesem Zustand nicht nackt vor Hayden liegen.
»Ich habe dir gesagt, dass ich nichts tauge. Ich habe es dir gesagt.«
»Geh jetzt.«
»Ich möchte bei dir sein. Du bist alles, was ich will. Das weiß ich jetzt.«
»Geh!«
»Ich kann dich doch nicht so zurücklassen!«
»Wenn du nicht auf der Stelle gehst, rufe ich die Polizei.«
Er verließ die Küche, und ein paar Minuten später hörte ich ihn die Wohnung verlassen. Die Tür fiel ins Schloss. Ich wusste genau, welches Gesicht er machte, während er jetzt draußen die Straße entlangging.
Ich schlug die Augen auf, drehte vorsichtig den Kopf hin und her, erst auf die eine Seite, dann auf die andere, und winkelte die Beine an. Mir fehlte nichts – abgesehen davon, dass mich die Rippen und der Hals schmerzten und mir ein wenig übel war. Bald würde ich aufstehen und mich unter die Dusche stellen, mein Gesicht und meinen Hals inspizieren. In einer Minute. Noch nicht gleich.
Als ich aufwachte, wusste ich einen Moment gar nicht, wo ich mich befand. Die Unterlage, auf der ich geschlafen hatte, fühlte sich hart an, und mir tat der Rücken weh. Wie lange hatte ich geschlafen? Vorsichtig
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