Die Komplizin - Roman
restlichen vier Finger über das mit Essen verschmierte Gesicht gebreitet. Mit einem Seufzer der Erleichterung ließ Sally sich zurück ins Gras sinken, so dass Lola gemütlich auf ihrem Bauch lag.
»Ich bin schon nach einer Stunde völlig fertig«, erklärte ich. »Keine Ahnung, wie du das den ganzen Tag schaffst.«
»›Schaffen‹ ist das falsche Wort«, entgegnete sie, »das klingt so ordentlich und systematisch. Schau mich an – sehe ich vielleicht ordentlich und systematisch aus?«
»Du siehst großartig aus.«
»›Müde, fertig und fett‹ trifft es wohl eher. Meine Haare gehören dringend geschnitten. Außerdem sollte ich mir endlich mal wieder die Beine enthaaren und die Nägel lackieren.«
»Du hast zu viele Zeitschriften gelesen«, meinte ich, »in denen sie dir erklären, wie man drei Wochen nach der Geburt wieder Größe sechsunddreißig erreicht.«
»In einem der Bücher, die ich mir reingezogen habe, als ich mit Lola schwanger war, gab es ein Kapitel darüber, was man alles ins Krankenhaus mitnehmen soll – zum Beispiel einen Gummiring zum Draufsetzen, falls man genäht werden muss, und eine Sprayflasche, mit der einem der Partner während der Wehen ins Gesicht spritzen kann – obwohl ich Richard wahrscheinlich an die Gurgel gegangen wäre, wenn er das mit mir gemacht hätte. Jedenfalls war als unerlässliches Utensil ein Schminktäschchen aufgeführt, damit man sich seinem Gatten frisch und hübsch präsentieren kann.«
»Das ist ja fürchterlich!«
»Noch viel fürchterlicher ist, dass ich tatsächlich blöd genug war, diesen Ratschlag zu befolgen – ich habe mein Make-up mitgenommen und sogar ein wenig Wimperntusche aufgetragen, bevor ich Besuch bekam. Kannst du dir das vorstellen? Man hat gerade ein neues Leben auf die Welt gebracht, was
ja wirklich ein richtiges Wunder ist, und muss sich trotzdem noch Gedanken darüber machen, wie man aussieht. Du wärst bestimmt nicht so dämlich.«
»Aber nur, weil ich mich sowieso kaum schminke.«
»Na bitte, da haben wir es ja.«
»Was? Das musst du mir jetzt näher erklären.«
»Ich weiß es doch selbst nicht genau.« Sie gähnte so herzhaft, dass ich bis in ihren rosa Rachen sehen konnte. In dem Moment hatte sie Ähnlichkeit mit einer Katze – einer großen, müden, leicht zerzausten Katze.
»Wir sollten mal ein Wochenende wegfahren«, schlug ich vor.
»Das wäre ein Traum. Aber was mache ich dann mit Lola?«
»Die nehmen wir mit.«
»Nein, ganz bestimmt nicht. Wenn wir zusammen wegfahren, möchte ich mal ein Gläschen über den Durst trinken und ausschlafen. Mit Lola kann ich beides mehr oder weniger vergessen.«
»Dann lass sie doch bei Richard.«
Sie schnaubte verächtlich. »Als ob das ginge! Erzähl mir lieber, was in der großen weiten Welt so passiert.«
»Ich stelle gerade eine Band zusammen.«
»Was?« Sie brach in schallendes Gelächter aus, was zur Folge hatte, dass Lola auf ihrem Schoß unruhig die Position wechselte.
»Na, hör mal, du tust ja gerade so, als hätte ich noch nie ein Instrument angerührt.«
»Wieso erfahre ich erst jetzt davon?«
»Es ist erst seit ein paar Tagen aktuell. Ich habe dich seitdem nicht getroffen.«
»Du hättest es mir trotzdem erzählen sollen.«
»Ich erzähle es dir doch gerade.«
»Ja, stimmt. Entschuldige. Ich glaube, irgendwie verlasse ich mich mittlerweile schon darauf, dass du mich ständig mit aufregenden
Geschichten versorgst, sozusagen als Ersatz, weil ich selbst nichts mehr erlebe. Um welche Art Band handelt es sich denn?«
»Um eine laienhafte, nicht besonders gute, die bis zum Herbst in der Lage sein sollte, auf der Hochzeit einer Freundin ein paar Stücke Folk und Bluegrass zum Besten zu geben, ein bisschen von diesem und jenem. Um sich anschließend wieder aufzulösen.«
»Eine Band ohne bindendes Band?«
»Genau.«
»Vielleicht werdet ihr ja entdeckt und bekommt einen Plattenvertrag.«
»Wohl kaum. Wir werden uns ein-, zweimal die Woche zum Proben treffen, um am Ende drei oder vier Nummern zu spielen, denen niemand Beachtung schenken wird, und das war’s dann.«
»Vielleicht könnte ich auch mitmachen?« Sie klang wehmütig.
»Spielst du ein Instrument?« Natürlich wusste ich, dass dem nicht so war. Wir hatten als Elfjährige gemeinsam Blockflöte gelernt, aber recht viel mehr gab es da nicht zu berichten.
»Ich könnte ein Tamburin schwenken.«
»Vergiss es! Tamburin, Triangel und Rassel sind bei uns tabu.«
»Wer ist denn mit von der
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