Die Komplizin - Roman
Gesicht sehen, dachte ich, sein schönes Gesicht. Wird er die Augen offen haben und zu mir heraufstarren?
»Ja«, antwortete ich, »ja.«
»Bereit?«
»Bereit.«
Da war er. Mit offenen Augen, die an mir vorbei zur Decke starrten. Sein Gesicht war bleich, fast grau, wie Kitt. Ohne nachzudenken, zog ich einen Handschuh aus, um ihn ein letztes Mal zu berühren und diese toten Augen zu schließen.
»Nein!« Sonias scharfer Ton hielt mich zurück. »Tu das nicht, Bonnie! Er ist tot. Es ist vorbei. Das da ist nur noch ein lebloser Körper, den wir loswerden müssen. Wenn du dir jetzt Gefühle gestattest, werden wir es nicht schaffen. Häng deinen Erinnerungen später nach. Verschieb all deine Gefühle, welcher Art sie auch sein mögen, auf später. Jetzt können wir sie nicht gebrauchen.«
Ich sah sie an. Ihr Gesicht wirkte in diesem Moment zugleich streng und schön.
»Du hast recht. Wie geht es jetzt weiter?«
»Wenn wir so weit sind, müssen wir ihn aus der Wohnung in seinen Wagen verfrachten. Wo ist der Autoschlüssel? Du hast doch den Schlüssel?«
»Ja, in meiner Tasche, zusammen mit dem Wohnungsschlüssel.«
Sonia kauerte sich neben das Fußende der Leiche, ich blieb am Kopfende, und wir klappten das jeweils überstehende Stück Teppich über den Körper. Nun konnte ich sein Gesicht nicht mehr sehen. Vor Anstrengung keuchend, rollten wir ihn ein, indem wir ihn zunächst in die Seitenlage hievten und dann mit einem Plumpsgeräusch auf den Bauch kippen ließen. Meine Rippen taten weh, und ein scharfer, stechender Schmerz schoss durch meinen Körper. Ich musste plötzlich daran denken, wie ich mich als Teenager einmal abgemüht hatte, ein Zelt möglichst fest und gleichmäßig zusammenzurollen. Aber so eine Leiche ist sperrig und widerspenstig. Durch den Teppich spürte ich die Form seines Körpers, die Rundung seiner Schulter. Keine Gefühle, keine Erinnerungen, ermahnte ich mich selbst. Du darfst jetzt nicht mal denken. Nur handeln.
Davor
Das Telefon klingelte genau in dem Moment, als mein Besucher – ein Freund, der überraschend vorbeigeschaut hatte – mir erklärte, seiner Meinung nach könne ich einfach die Wand zwischen der kleinen Küche und dem Wohnzimmer einreißen und auf diese Weise einen etwas größeren Raum schaffen. Der Anrufer war Joakim. Er klang ein wenig verlegen, als hätte er noch nicht ganz verkraftet, dass seine ehemalige Lehrerin ins Lager der Normalsterblichen übergewechselt war. Er wollte wissen, ob ich schon einen Schlagzeuger gefunden hätte. Als
ich ihm erklärte, dass wir vermutlich ohne zurechtkommen müssten, stieß er ein verlegenes Hüsteln aus.
»Ich wüsste da jemanden.«
»Tatsächlich?«
»Meinen Dad. Er möchte es unbedingt machen.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Gut ist er nicht, aber dafür hoch motiviert.«
Danach
Dass die Leiche jetzt nicht mehr zu sehen war, machte das Ganze nicht besser, sondern eher noch schlimmer. Vorher war es ein schreckliches Desaster gewesen, vielleicht sogar eine irgendwie geartete Tragödie. Nun sah es bloß noch nach einem Verbrechen aus – was es ja auch war.
»Und jetzt?«, fragte ich.
»Wir tragen ihn zum Wagen hinaus.«
»Schaffen wir das denn?«
»Es wird uns nichts anderes übrig bleiben.«
»Könnten wir ihn nicht einfach irgendwo auf der Straße ablegen? Vielleicht denken dann alle, dass er überfallen worden ist.«
Sonia sah mich an, als würde sie plötzlich an meinem Geisteszustand zweifeln.
»Wir müssen es so machen, wie wir gesagt haben«, erklärte sie. »Die besten Chancen haben wir, wenn es so aussieht, als wäre er verreist. Falls er heute Abend tot aufgefunden wird, gibt es sofort eine umfangreiche Untersuchung. Dann fliegt alles auf.«
In dem Moment ertönte ein Geräusch, das mich derart überraschte, dass ich ein paar Sekunden brauchte, um es zu identifizieren. Es war, als würde mein Gehirn die Annahme verweigern. Ich musste erst angestrengt überlegen, ehe ich begriff:
Es handelte sich um eine Klingel. Die Türklingel dieser Wohnung. Es läutete erneut.
Sonia und ich schauten uns an. Zweifellos schossen uns die gleichen Fragen durch den Kopf. Wer war das? Hatte der oder die Betreffende etwas gehört? Noch wichtiger aber, wichtiger als alles andere auf der Welt war die Frage: Besaß er oder sie einen Schlüssel? Mein Gehirn arbeitete immer noch sehr langsam. Irgendwie bekam ich das Ganze nicht auf die Reihe. Erst dachte ich, nein, das ist niemand mit Schlüssel, denn
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