Die Komplizin - Roman
schafften wir es hinaus auf die Kilburn High Road, die immer noch Wärme abstrahlte, obwohl es bereits nach elf war und mittlerweile ein kühler Wind ging. Ich winkte ein Taxi heran. Hayden schien davon auszugehen, dass ich ihn mit zu mir nehmen wollte. Ging er genauso automatisch davon aus, dass wir im Bett landen würden, nur weil wir zufällig am Ende des Tages nebeneinander auf der Straße standen? Falls dem tatsächlich so war, sollte er eine Überraschung erleben. Zumindest redete ich mir das ein. Er brauchte nicht zu glauben, dass ich ihm jederzeit zur Verfügung stand. Allerdings lag meine Wohnung nun mal auf seinem Weg. Ich würde ihm eine Tasse Kaffee anbieten und ihn anschließend nach Hause schicken. Definitiv. Dann würde ich Neal anrufen. Während der Fahrt
war Hayden nicht besonders gesprächig. Ich kannte das Gefühl. Nach so einem Auftritt musste man meist erst ein wenig zur Ruhe kommen und verspürte nicht die geringste Lust, all seine Empfindungen in Worte zu fassen. Als wir das Chaos in meiner Wohnung betraten, lehnte er seinen Gitarrenkoffer vorsichtig an das Sofa. Plötzlich wirkte er völlig wehrlos, wie ein kleines Kind.
»Ich weiß gar nicht, was ich mit mir anfangen soll.« Obwohl er das mit einem halben Lächeln sagte, spürte ich, dass er es ernst meinte. »Ich fühle mich innerlich ganz leer«, fügte er hinzu.
Plötzlich empfand ich für ihn ein derart heftiges Gefühl von Zärtlichkeit, dass es mir den Atem raubte.
»Komm her«, sagte ich, während ich meinen Ranzen zu Boden fallen ließ.
Ich zog ihm die Jacke aus, schob beide Hände unter sein Hemd und streichelte über seine warme, feuchte Haut. Als ich mich an ihn lehnte, stellte ich fest, dass er auf eine angenehme Art nach Bier und Hefe roch. Er presste die Lippen auf meinen Scheitel und zog mich gleichzeitig fest in seine Arme. Ich spürte seinen Herzschlag und schloss die Augen. Für gewöhnlich fühlt man sich in den Armen eines anderen Menschen sicher, beschützt und getröstet. Nicht so bei Hayden – bei ihm hatte ich nie dieses Gefühl. Es war eher eine schwindelerregende Erfahrung, als umklammerten wir uns am Rand eines Abgrunds und könnten jeden Moment in die Tiefe stürzen.
Nach einer Weile lösten wir uns voneinander. Seufzend rieb er sich die Augen, als wäre er gerade aus einem Traum erwacht.
»Wie hat es dir gefallen? Ganz ehrlich.«
»Ich fand es wirklich gut«, sagte ich. »Großartig. Ich war richtig begeistert.«
Stirnrunzelnd musterte er mich.
»Raus damit, Bonnie.«
»Ein paar von den Songs waren absolut fantastisch«, fuhr
ich fort, »und vor allem mit Nat hast du richtig gut zusammengespielt.«
»Es hat dir nicht gefallen.«
»Doch. Sehr gut sogar. Ich finde, du kommst auf der Bühne ganz wunderbar rüber.«
»Sei kein Feigling.«
»Es hat mir gefallen, Hayden. Und wie!« Meine Stimme klang schwach und wenig überzeugend.
»Für wen, zum Teufel, hältst du dich eigentlich?«
»Was?«
Plötzlich spürte ich, wie ich mit voller Wucht gegen die Wand knallte, und hatte zugleich das Gefühl, mich mitten in einem Feuerwerk zu befinden. Farbige Funken stoben in verschiedene Richtungen davon. Ich fragte mich, was da gerade passiert war, und selbst dann, als ich es begriff, musste ich es mir fast laut vorsagen: Ich bin geschlagen worden. Hayden hatte mich geschlagen.
Mehrere Sekunden lang verharrten wir beide vollkommen reglos in unserer jeweiligen Position, er noch mit erhobener Hand und ich an die Wand gelehnt. Während wir uns anstarrten, hatte ich das Gefühl, in einen Bereich von ihm zu schauen, der sonst ganz tief verborgen lag. Ich konnte weder den Blick abwenden, noch brachte ich ein Wort heraus.
Dann sackte er in sich zusammen wie ein Stück Papier, das gerade Feuer gefangen hat und plötzlich seine Form verliert. Sein Gesicht legte sich in Falten, und sein ganzer Körper gab nach, so dass er einen Moment später neben mir auf dem Boden kniete.
»Das wollte ich nicht… Dein armes Gesicht!«, stammelte er, selbst völlig fassungslos.
Ich berührte mit einer Hand meine Wange und zuckte erschrocken zusammen. Sie fühlte sich breiig und wund an. Als ich die Finger wegnahm, waren sie voller Blut. Hayden
streckte den Arm aus, als wollte er nach meiner Hand greifen, doch ich wich mit einem heftigen Ruck zur Seite aus.
»Wage es ja nicht, mich anzufassen!«
Betroffen rappelte er sich hoch. Sein Gesicht wirkte derart bekümmert, dass ich es kaum wiedererkannte.
»Ich habe dich gewarnt.
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