Die Komplizin - Roman
ihrem Umschlag in der Hand wieder herauskamen, entweder in Grüppchen oder allein. Lauter ehemalige Schüler von mir.
Ich hasse den Tag der Notenbekanntgabe. Egal, wie viele von ihnen ihr Ziel erreichten, es gab immer welche, deren Hoffnungen sich zerschlugen. Am schlimmsten war es, wenn – wie in
der kommenden Woche – die Resultate der Sekundarstufe bekanntgegeben wurden und ganze Scharen von Schülern, die nicht genug gearbeitet hatten und bei denen man im Grunde vom ersten Tag an wusste, dass sie die Schule ohne höheren Abschluss verlassen würden, dieses Ritual der öffentlichen Demütigung über sich ergehen lassen mussten. Doch auch die heutige Bekanntgabe der Abiturergebnisse war schlimm genug. Wenn ich mir so die herumstehenden Grüppchen anschaute, sah ich sofort, wem es schlecht ergangen war: nicht nur Amy, die gerade bitterlich an der Schulter ihrer besten Freundin weinte, sondern auch Steven Lowe, der lachend mit den Achseln zuckte und so tat, als wäre es ihm egal, auch wenn ihm das keiner abnahm. Ein schüchterner junger Mann namens Rob wirkte, als hätte er gerade einen Magenschwinger verpasst bekommen und könnte sich kaum noch auf den Beinen halten, während zwei Leidensgenossen von ihm, Lorrie und Frank, verbissen an ihren Zigaretten zogen.
Zusammen mit neun anderen Lehrern befand ich mich bereits seit acht Uhr dreißig vor Ort. Mittlerweile war es zehn. In der Regel wurde es gegen Ende immer schlimmer: Die Schüler, die mit guten Ergebnissen rechneten, tauchten meist als Erste auf. Andere kamen später und langsamen Schrittes, als wäre ihnen das Ganze völlig egal, während sie in Wirklichkeit nur den Moment der bitteren Wahrheit, die sie bereits ahnten, ein wenig hinauszögern wollten.
Dann entdeckte ich plötzlich eine vertraute Gestalt. Joakim hatte die Hände lässig in die Taschen seiner Jeans geschoben und eine Zigarette im Mundwinkel hängen. Als er mich erkannte, hob er grüßend die Hand, blieb jedoch nicht stehen. Ich beobachtete, wie er auf den Tisch mit seinem Umschlag zusteuerte. Noch wirkten sein Nacken und seine Schultern steif und verspannt, doch einen Moment später entspannten sie sich sichtlich. Das war seine ganz persönliche, eher verhaltene Art, Erleichterung oder Freude auszudrücken. Nachdem
er lässig seinen Notenbogen zusammengerollt hatte, blieb er noch kurz stehen, um ein paar Worte mit einem Klassenkameraden zu wechseln und sich von einem Mädchen mit blonden Zöpfen mehrere Lippenstiftabdrücke verpassen zu lassen. Dann schüttelte er die Hand von Joe Robbins, dem Schuldirektor, und wandte sich zum Gehen.
»Zufrieden?«, fragte ich, als er an mir vorbeikam.
»Ja. Alles bestens.« Um seinen Mund zuckte ein Lächeln. Er reichte mir den Ausdruck.
»Großartig«, lobte ich ihn und legte dabei eine Hand auf seinen Arm. Er bekam vor Freude ganz rote Wangen. »Du kannst sehr stolz auf dich sein.«
»Danke.«
»Dann zieh los und feiere schön«, sagte ich, während ein anderer Junge ihn lautstark aufforderte, sich ihnen anzuschließen. »Wir sehen uns ja heute Abend bei dem Grillfest.«
»Kommst du auch?«
»Ja, zu unserem Probeauftritt. Das hast du doch selbst arrangiert.«
»Ach, das.«
»Es bleibt dabei, oder?«
»Klar. Ich bin ja sowieso auf der Party. Das wird ein richtiges Besäufnis. Die einen werden feiern, die anderen ihre Sorgen ertränken. Unser Auftritt ist bloß als kleine Unterbrechung des Gelages gedacht.«
Als wir zu spielen begannen, sah es ganz danach aus, als würde es jeden Moment zu regnen anfangen. Es waren mindestens hundertfünfzig junge Leute da. Die meisten hatten schon bei ihrer Ankunft einen sitzen, und alle anderen beeilten sich nachzuziehen. Sie schütteten Dosenbier in sich hinein, rauchten Joints und aßen verbrannte Würstchen und graue Burger. Ich beobachtete einen Jungen, den ich mehrere Jahre unterrichtet hatte, dabei, wie er unter heftigem Keuchen und Weinen
ins Gebüsch kotzte. Von unserer Musik nahm kaum jemand Notiz, lediglich Joakim wurde hin und wieder mit Jubelrufen oder Gejohle bedacht. Sonia und mich kannten viele der Anwesenden zumindest vom Sehen, so dass es zu ein paar lustigen Situationen kam, weil die Leute erstaunt die Augen aufrissen und erst ein zweites Mal hinschauen mussten, ehe sie begriffen, wer da auf der Bühne stand. Dann aber vergaßen sie uns schnell wieder. Der ehemalige Schulsprecher verschwand mit einem Mädchen aus der zwölften Klasse hinter dem Schuppen, weil er sich wohl
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