Die Konkubine
verloren hatten. Sie hatte sich nie danach erkundigt, war zu sehr mit ihren eigenen Wunden beschäftigt gewesen. Außerdem schien sich nicht viel verändert zu haben. Doch in den dunklen Augen loderte jetzt ein Ausdruck, den sie nicht kannte, eine Entschlossenheit, eine Härte, die ihr Furcht einflößten.
«Das meinst du nicht ernst, Schwester. Bitte verlange das nicht von mir. Ich kann das nicht tun.»
Meili kannte kein Erbarmen. «Du musst. Es ist eigentlich ganz leicht, das erste Mal vielleicht nicht, aber man gewöhnt sich daran. Ein Mensch stirbt schnell, wenn man es richtig anstellt.»
«Du hast schon getötet?»
Die Freundin blieb gelassen. «Natürlich. Was dachtest du? Yuan Shikais Schutz hat seinen Preis. Und was getan werden muss, tun wir für Zhongguo. Die fremden Teufel haben auch viele von uns getötet. Oder etwa nicht? Ich bin sicher, du hast es selbst gesehen. Erzähle mir nicht, dass du noch immer träumst, so wie früher. Von einer Welt, in der es nichts Böses gibt.»
Mulan senkte den Kopf und streichelte die weiche Wange ihres wunderschönen Sohnes. Er schlief selig auf ihrem Schoß. Meilis Forderung kam ihr so aberwitzig vor. Alles war grotesk, unwirklich, ein Traum, aus dem sie bestimmt gleich erwachen würde.
«Du glaubst noch immer, wenn du das Böse ignorierst, dann ist es nicht vorhanden, Mulan. Was muss denn noch alles geschehen, damit du dich endlich der Wirklichkeit stellst?»
«Das tue ich doch schon! Ich habe mich mit diesem fremden Soldaten getroffen», erwiderte sie. Es stimmte, was Jiejie sagte. Schon als Kind hatte sie Unangenehmes ausgeblendet, sich von den Schmerzen in ihren gebundenen Füßen fortgeträumt in ein sonniges warmes Land, in dem nur edle Menschen lebten. Und der Edelste unter ihnen, der Schönste und der Beste würde sie einst zu seiner Frau nehmen. «Und? Was schadet es schon, ein wenig zu träumen?»
Kurz zeigte sich die Ungeduld im schönen Gesicht der Freundin. «Mulan! Schau dir dein Kind an. Du bist mit dafür verantwortlich, dass dein Sohn in einem starken Reich groß werden kann, einem Reich, in dem Fremde Gäste sind, aber keine Eroberer, keine Mörder, keine Plünderer. Deshalb wirst du diesen Soldaten töten. Er weiß zu viel.»
«Aber er ist doch ein Niemand, nur ein Untergebener; was soll er denn schon groß für Schaden anrichten?»
«Auch ein Sandkorn kann eine Lawine auslösen. Wir müssen das unbedingt verhindern! Die Deutschen haben von den Waffengeschäften erfahren und suchen jetzt die Hintermänner. Auch dein Soldat ist an den Nachforschungen beteiligt. Was ist, wenn er sich Stück für Stück ein Bild macht und versteht, dass dahinter noch mehr steckt! Dass dein Herr, der Vater deines Sohnes, mehr ist, als er zu sein scheint? Dass es hier nicht nur um Waffen, sondern auch um Opium und Schmuggel geht – zugunsten der großen Reform? Das müssen wir unbedingt verhindern. Mulan, du bist die Einzige, die so nah an ihn herankommt. Außerdem haben uns eindeutige Befehle aus dem Umkreis des Gouverneurs erreicht. Liu Guangsan ist gefährdet, wenn du nicht gehorchst. Ja, selbst ein Mann wie er. Die Reformbewegung kann niemanden in ihren Reihen dulden, der seine Pflicht gegenüber unserem Volk nicht erfüllt. Niemanden. Und wenn du es schon nicht für dein Land tust, dann tu es für deinen Bruder und das, woran er glaubte.»
In Mulans Augen standen Tränen, als sie die Freundin ihrer Kindertage anschaute. «Was hat dich so hart gemacht, meine Schwester? Was ist damals mit dir geschehen?»
«Nichts, was nicht auch mit anderen geschehen wäre. Nachdem dein Bruder gefasst war und deine Eltern sich selbst getötet hatten, sind meine Eltern mit uns Kindern geflohen. Sie wussten, dass es wegen der engen Freundschaft zu deiner Familie nur eine Frage der Zeit sein würde, bis auch wir abgeholt werden würden. Also gingen wir zunächst zu Yuan Shikai nach Jinan. Er riet uns, Christen zu werden, so seien wir sicherer. Ich weiß noch, wie glücklich der Missionar darüber war, dass gleich eine ganze Familie konvertieren wollte. Natürlich sagten wir niemandem, wer wir waren, woher wir kamen, sondern legten uns einen anderen Namen zu.
Mein Vater bekam die Aufgabe, die Schriftstücke zu verfassen, die für den Verkehr zwischen der Mission und unseren Leuten unerlässlich waren. So blieb es uns erspart, als Bettler durchs Land zu ziehen. Eines Tages ging meine Familie fort, um auf dem Markt einzukaufen. Mein Vater, meine Mutter, meine Brüder. Sie kamen
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