Die Korallentaucherin
die Hotelanlage erreicht hatte. In der schwachen Beleuchtung, die an Baumstämmen und am Weg entlang angebracht war, konnte sie genug sehen. Außerdem spendete der Mond ausreichend Licht und ließ den Himmel und das ruhige Meer schimmern. Sie ging am Swimmingpool vorbei, dessen Wasser im Perlmuttlicht glomm. Die Ebbe hatte einen weißen Streifen Sand zwischen der Korallenplatte und den schweren Steinen an der Ufermauer der Anlage freigelegt.
Das Licht einer Taschenlampe lockte sie an, und vor dem silbrigen Wasser erkannte sie die kleine Gestalt Isobels.
»Die Nacht ist ideal«, sagte Isobel leise. »Ich bin seit einer Stunde hier, und es gibt viel zu sehen.«
»Ach ja? Aber es ist dunkel. Und alles sieht verlassen aus«, sagte Jennifer und ließ an Isobels Seite die Anlage hinter sich.
Zur Antwort blieb Isobel stehen, berührte Jennifers Arm und richtete den Strahl ihrer Taschenlampe auf den Sand. »Da, siehst du die Bläschen und Buckel? Zeit der Fütterung; alle möglichen Tiere suchen hier Nahrung. Siehst du?« In der anderen Hand hielt sie einen Stock, mit dem sie etwas Sand zur Seite kratzte, um ein emsiges Weichtier und einen Ringelwurm freizulegen, die sich auf ihrer Suche nach Nahrung in den Sand eingruben. »Und schau mal hier … er kann sich nicht verstecken.« Der Umriss eines perfekten Seesterns zeichnete sich unter dem Sand ab. »Er nimmt Wasser auf und stößt es durch seine poröse Oberseite wieder aus.«
Sie leuchteten mit den Taschenlampen die seichten Tümpel aus, in denen kleine flinke glitzernde Fische von einem bedrohlichen dunklen Schatten verfolgt wurde. Plötzlich schlug er mit der Schwanzflosse und schoss mitten zwischen die Fische.
»Ein Riffhai. Klein und harmlos«, sagte Isobel.
Sie gingen weiter, lauschten und schwangen ihre Taschenlampe gleichzeitig in die entsprechende Richtung, wenn sie etwas hörten.
Eine leichte Brise erhob sich und kräuselte das schimmernde Wasser. Isobel reckte die Nase in die Luft. »Die Dämmerung ist nahe. Ich kann es spüren. Die Temperatur verändert sich, Luft und Wasser regen sich, die Vögel wachen auf, diese Nachttiere huschen davon. Es ist die schönste Zeit des Tages.«
»Ich erinnere mich, wie ich damals auf unserer Farm früh aufwachte und dann im Bett lag«, sagte Jennifer. »Ich war noch klein und lauschte dem Vieh, dem Gesang der Vögel, ich hörte, wie mein Dad seine Stiefel anzog und durch den Flur stapfte, wie er Tee kochte. Mein Bruder und meine Mutter schliefen immer lange und ließen sich von Dad Tee und Toast servieren. Aber wir zwei tranken immer die erste Kanne gemeinsam, ganz leise in der Küche. Dann ging er seiner Arbeit nach, und ich saß im Bademantel draußen, wo der Tau verdunstete oder der Frost das Gras knirschen ließ. Wir hatten ein Plumpsklo außerhalb des Wohnhauses. Ich setzte mich auf die Hintertreppe und sah zu, wie die Welt zum Leben erwachte. Wenn Dad zurückkam, kochte er noch einmal Tee und bereitete Toast zu und weckte die anderen. Ich glaube nicht, dass meine Mutter überhaupt von dieser stillen Zeit wusste, die Dad und ich gemeinsam hatten. Wir sprachen kaum, aber manchmal zeigte er mir etwas, oder er kam zurück und sagte: ›Molly hat ihr Kälbchen bekommen‹, oder etwas Ähnliches.«
»Wie schön«, flüsterte Isobel.
»Ich fühlte immer, dass diese Zeit mit meinem Vater etwas ganz Besonderes war – selbst wenn er auf der anderen Seite der Koppel arbeitete –, und ich erinnere mich deutlich daran, dass ich die Dinge um mich herum wahrnahm. Dad sagte, ich hätte ein großes Talent für Naturbeobachtungen. Und mir ist bewusst, dass ich das verloren habe. Nun ja, bis jetzt. Du öffnest mir aufs Neue die Augen.« Jennifer hielt inne. »Du und mein Dad, ihr hättet euch gemocht.«
Obwohl mein Dad ein zugeknöpfter, unsicherer Mann war, der Angst vor meiner Mutter hatte. Du bist stark, lebhaft und klug, Isobel. Doch ich glaube, ihr hättet die gleiche Wellenlänge gehabt.
»Jemand, der einem Kind die Augen für die Geheimnisse der Welt öffnet, ist ein besonderer Mensch. Er fehlt dir sehr?«
»Mein Vater? Ich habe ihn kaum gekannt, kann ihn als Person also nicht vermissen. Ich erinnere mich nur daran, dass er von meiner Mutter herumgestoßen wurde. Mir fehlt die
Vorstellung
von ihm, von einer Vaterfigur. Vielleicht wäre er nicht ein Vater gewesen, wie ich ihn mir wünschte. Aber ein schwacher Vater wäre zumindest besser gewesen, als allein mit meiner abhängigen und besitzergreifenden Mutter zu
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