Die Korallentaucherin
schreiben Sie nicht selbst ein Buch? Wovon handelt es denn?«
Jennifer zögerte mit ihrer Antwort, denn sie spürte, dass es keine allgemeine oder höfliche Nachfrage war, die sie mit einer nichtssagenden Bemerkung abtun konnte. Die Frage dieses Mannes erforderte eine wohlüberlegte Antwort. »Na ja … Ich interessiere mich für Biologie und Ökologie. Als Naturforscherin arbeite ich an meinem Abschluss in den allgemeinen Naturwissenschaften. Ich bin fast ohne Spielkameraden auf einer Farm aufgewachsen.« Wieder spürte sie beim Gedanken an den verlorenen Bruder einen schmerzhaften Stich. »Als Einzelkind. Die Welt um mich herum, die Lebewesen im Busch und ihre Beziehungen zueinander haben mich schon immer fasziniert.«
»Als Naturforscherin sind Sie hier genau richtig. Sehen Sie sich, wenn Sie nicht gerade schreiben, doch einfach die Insel genauer an. Warten Sie ab, welche Fragen sich Ihnen stellen.«
»Das ist eine interessante Vorgehensweise«, sagte Jennifer. Der alte Herr wurde ihr immer sympathischer.
Er rückte seinen Hut zurecht. »Meines Erachtens hat Forschung zum Ziel, Fragen zu beantworten, doch zuvor muss man wissen, welche Fragen zu stellen sind. Oft sucht man nach Dingen und sieht sie nicht. Dann wieder, wenn man es am wenigsten erwartet, sind sie da, Fische, Schildkröten, Vögel, Insekten … und gehen ihrer Wege. Es ist wie im Leben, wenn man aufhört zu suchen und den Dingen nachzujagen, fallen sie einem in den Schoß.«
»Sie sind ein Philosoph. Leben Sie auf der Insel?«, fragte Jennifer. Offenbar hatte er sich viele Gedanken über die Forschung gemacht. Seine Perspektive wirkte so frisch im Vergleich zu der ihrer Hochschullehrer.
»Ich bin nur ein alter Fischer, ein Bootsmann. Ein Strandräuber, wenn Sie so wollen. Vor über dreißig Jahren bin ich hier an Land geschwemmt worden.« Er blieb stehen und streckte ihr die Hand entgegen. »Ich heiße Gideon. Sag du zu mir.«
»Ich bin Jennifer.« Sie hielt inne und fragte sich, warum sie ihren Nachnamen nicht nennen wollte. Ihre Bekanntschaft mit dem alten Strandräuber hatte doch nichts mit Blair zu tun. Oder mit ihrer Mutter.
»Also, Jennifer, wohin willst du denn heute Morgen? Wie es aussieht, bist du mit Proviant versorgt – und mit einem guten Buch, hoffe ich.«
»Ich will zu dem kleinen Strand bei Coral Point.«
»Boomerang Cove. Ja, da ist es schön. Einsam. Bei Flitterwöchnern sehr beliebt. Nachdem wir uns bekannt gemacht und festgestellt haben, dass wir beide sozusagen Einheimische sind, darf ich dich vielleicht zu meiner Seite der Insel einladen? Es ist eine Art Privatclub.« Er grinste.
»Besuchst du auch mal das Hotel? Wie war es hier, als du … an Land geschwemmt wurdest?« Der Weg wurde schmaler, als er von der Bucht aus zwischen mächtige Pisonien führte, teilweise zwanzig Meter hoch mit dicken, fleischigen Blättern, die die Sonne verdeckten. Jennifer ging hinter Gideon, der alte Segeltuchschuhe ohne Schnürsenkel und mit Löchern für die großen Zehen trug.
»Ich kannte den alten Knaben, der sich als Erster hier niedergelassen hat. Seine Jacht gab den Geist auf, deshalb richtete er sich hier ein und fing an, Sachen vom Festland rüberzuschaffen, so gut gefiel es ihm hier. Anfangs hat er gefischt, doch das war zu schwierig ohne Kühlmöglichkeit. Als er dann entdeckte, dass Tausende von Schildkröten zur Eiablage hierherkommen, kam er auf die Idee, eine Massenproduktion von Schildkrötensuppe aufzuziehen.«
»Nein! Das ist ja scheußlich. Sie stehen unter Naturschutz«, empörte sich Jennifer.
»Damals nicht. Die Fabrik florierte eine Zeitlang und machte dann Pleite. Daraufhin baute er ein paar Ferienhäuschen. Jede Menge Segler legten hier einen Zwischenstopp ein, und durch Mundpropaganda wurde die Insel bekannt. Dann fing er an, Feriengäste herzuholen. Das war in den Sechzigern.«
»Damals muss die Insel noch unberührt gewesen sein.« Jennifer duckte sich unter den Ästen der Bäume hindurch. Sie ahnte, dass sie sich im Zentrum der Insel befanden. Es war sehr still und heiß, es roch nicht mehr nach Meer, keine Seevögel waren zu sehen.
»Es gab keinerlei Annehmlichkeiten, falls du das meinst. Aber wir wussten damals nicht viel über Naturschutz und die Erhaltung des Riffs und der Meeresbewohner. Die Leute verließen die Insel mit so vielen Fischen wie möglich, mit hübschen Muscheln, haufenweise Korallen, Schildkrötenpanzern, Seesternen. Das geht jetzt nicht mehr. Und wir dürfen es auch nicht«,
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