Die Kornmuhme (German Edition)
auf den Fersen war, und die Seele in Irrgrims Brust
ihn immer schneller antrieb, je näher sie Aron kamen.
Nur wenige Meilen trennten sie
noch voneinander. Irrgrim wusste nicht, wohin er rannte. Er wusste nur, dass er
ein Ziel hatte, dass er nach Hoxberg gehen sollte, um jemanden aufzuhalten,
aber er wusste nicht warum und wen. Dass er dem, den er aufhalten sollte, schon
dicht auf den Fersen war, wusste er auch nicht - ebenso wenig, wie die dunkle
Seele, die sein Herz umschlang, es selber nur erahnen konnte. Die Blume trug
die Seele der Hexe Ursul. Sie gehörte einem uralten Stamm an und hatte –
zumindest manchmal – die unter Hexen äußerst selten verbreitete Gabe, in die
Zukunft blicken zu können.
Sie konnte nicht alles sehen und
schon gar nicht alles, was sie wollte. Es kam manchmal einfach über sie, vor
allem dann, wenn eine große Bedrohung bevorstand. Eine Bedrohung, wie eben die,
wegen welcher sie sich auf den Weg gemacht hatte, und die auf das ganze
Geschlecht der Hexen zurollte. Sie lebte unerreichbar weit unten im Osten. Ihr
Körper lag nun schon seit Tagen wie tot auf einer alten, dreckigen Pritsche in
einem kleinen, windschiefen Hüttchen, tief in einem Bergwald eines vergessenen
Tales in Irminsul.
Lediglich ein Rest ihres Geistes
haftete noch an ihrem Fleisch. Ihre Seele entstammte jedoch – wie die jeder
Hexe -dem Feld der Muhme. Nun hatte sie beschlossen, ihre Seele auf
Wanderschaft zu schicken, und nicht nur diese, sondern auch ein großer Teil
ihres Bewusstseins hatte in dem Gefäß an Irrgrims Brust und in seinem Geist ein
neues Zuhause gefunden. Sie verwuchs mit jeder Stunde mehr mit seinem Herzen.
Er war das rettende Floß gewesen, auf das sie sich geflüchtet hatte, nachdem
sie in einer grausigen Vision das Feld der Kornmuhme hatte in Flammen aufgehen
sehen.
Was kaum jemand wusste: die
Hexenseelen hatte ihren Ursprung im Feld der Kornmutter oder >>Der
Muhme<<, wie die Menschen den Korndämon nur ehrfürchtig nannten. Die
Muhme war der Ursprung aller Schlechtigkeit auf Erden, und sie hegte und
pflegte in ihrem Garten die dämonische Saat, die diese Welt verseuchte. Das
Korn war die Frucht ihrer Arbeit. Wut und Hass hatte sie gesät, Trauer und
Verzweiflung, davon lebte sie. Und die Seelen der Hexen waren ihre Knechte, die
ihre Saat des Bösen unter den Menschen ausbrachten und mit ihren grausigen
Taten düngten. Und auch wenn die Hexen menschliche Gestalt annahmen, blieb ihr
Ursprung – der wichtigste Teil ihrer Seele - in eben diesem Feld in den blauen
Blumen verwurzelt, wo sie von den Ängsten und Nöten der Menschen lebten, die
dieses Feld speisten, so wie Regen und Sonne die Felder der Menschen speiste.
Einige Kaufleute stimmten, wenn
sie über Land ritten, düstere Lieder über die Kornmuhme an, um sich die Zeit zu
vertreiben. Manchmal waren diese Lieder auch in den Wirtschaften der sieben
Gebirge zu hören, wenn der Wein reichlich geflossen war und die Bewohner
unachtsam wurden. Meistens aber wurden ihre Reime nur leise flüsternd am
Lagerfeuer weitergetragen, wenn die Mütter ihren Kindern erklärten, warum sie
nie und nimmer in ein fremdes Feld laufen durften. Man konnte schließlich nie
wissen, ob es sich vielleicht um das wandernde Hexenfeld handelte, das mal hier
mal dort plötzlich erschien, und in dem die dunkle Mutter rastlos
umherstreifte, um die allzu neugierigen Kinder mit langen Armen und scharfen
Klauen auf Nimmerwiedersehen in ein Erdloch zu ziehen.
Jedes Mal, wenn das Feld der
Kornmutter auftauchte, zerfielen viele Hektar Land um sie herum zu Staub, und
es hieß, dass nach ein paar Tagen der Spuk vorbei wäre, und das Feld
weiterreiste, ja, dass man es durch die Luft habe fliegen sehen, behaupteten
Einige sogar! Und jedes Mal hinterließ es an der Stelle, an der es gewesen war,
nichts anders als graue, tote Erde.
Aron hatte als Kind von seiner
Großmutter einen Reim gehört, den er nie vergaß, und der sich wie eine Warnung
tief in sein Gedächtnis gegraben hatte. Verstanden hatte er ihn jedoch nie
wirklich ganz. Manchmal, wenn er nachts wach lag, über das Dunkle auf dieser
Welt nachsann, und sein Gemüt schwer und ängstlich wurde, hörte er ihre raue,
brüchige Stimme aus seinen Erinnerungen heraus, ihm das Gedicht der Kornmuhme
aufsagen:
Schwül und schweigend glüht der
Mittag,
Schlummert tief im Sonnenzauber.
Flimmernd bebt der blaue Aether,
Müde neigt das Korn die Aehre.
Wie in tiefe Nacht versunken
Strömt der stille Glanz des Tages;
Bang
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