Die Kornmuhme (German Edition)
ausgelaugt. Mitleidigen
Blicken und Fragen nach ihrem Befinden war sie ausgewichen. Sie hatte mit
niemandem reden wollen.
Danach war sie müde geworden. Die
Sorgen um Aron und die Trauer um das Geschehene zehrten an ihren Kräften und an
ihrer Seele. Sie brauchte viel Schlaf, um das alles zu verkraften.
Langsam dämmerte sie wieder weg.
Noch ein wenig Erholung, dachte sie. Nur noch ein wenig schlafen. Und während
sie wieder in die andere Welt hinüberglitt, hörte sie plötzlich ein leises Scharren,
so als schleife etwas über ihr Fensterbrett.
Als sie die Augen öffnete fand sie
ihr Zimmer wieder verändert. Es war Nacht in ihrem Traum und nun erhellte der
Mond den Dielenboden. Sie drehte den Kopf und blickte zum Fenster, das sich zu
ihrem Erstaunen weit geöffnet über ihrem Bett befand. Sie sah, wie unzählige
grobe, graue Fäden wenige Zentimeter über ihrem Kopf von draußen herein durch
die geöffneten Fensterläden über ihr Fensterbrett liefen, dann weiter durch die
angelehnte Türe auf der anderen Seite ihres Zimmers und in den Gang hinaus.
Konstant schien etwas an ihnen zu ziehen, wie das reibendes Geräusch verriet,
das die Wolle verursachte, während sie an dem Fensterbrett entlang schabte.
Gleichzeitig hörte Ranja, wie den
Fäden ein leises Wimmern entwich, ein Stöhnen und Jammern, angstvolles
Flüstern, und als sie genauer hinhorchte, glaubte sie Stimmen zu vernehmen, die
sie kannte, die ängstlich über die Zukunft redeten, und von Sorgen und
Verzweiflung jammerten, so als wäre in dieser Wolle alle Traurigkeit und Angst
ganz Urmitz gespeichert.
Vorsichtig richtete sie sich auf,
sehr bedacht darauf, die graue Wolle nicht zu berühren. Als sie nach draußen
blickte, sah sie, wie die vom Mondlicht beschienenen Fäden bis weit ins Dorf
hineinreichten. Wenn sie die Augen zusammen kniff und versuchte in der Ferne
etwas zu erkennen, so glaubte sie zu sehen, dass aus jedem Fenster ein grober
Faden Wolle zu kommen schien.
Sie stieg aus dem Bett und
schlich, dem Verlauf der Wolle folgend, mit pochendem Herzen in den Flur
hinein. Er führte in das verbotene Zimmer, dessen Türe nur einen Spalt breit
geöffnet war. Auch hier hörte sie das kontinuierliche Reiben der Wolle am
Türrahmen. Sie erkannte die abgenutzte Stelle wieder, über die sie sich neulich
gewundert hatte. An ihr rieb das Wollbündel auf seinem Weg ins Zimmer hinein.
Als sie die Tür des verbotenen Zimmers aufstieß, erschrak sie bis ins Mark.
Mara saß an einem Spinnrad und spann die Wolle auf eine große, graue Spindel.
Mit einem Schrei erwachte sie.
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Auch wenn Aron nicht ganz wohl bei
der Sache war, liefen sie am Fluss entlang. Er vermied jede Diskussion, blickte
sich aber ängstlich um und horchte hier und da in den Wald hinein. Das Rauschen
des Flusses und das der Bäume verschluckte allerdings jedes Geräusch, und so
wanderten sie dahin, und jeder ging seinen Gedanken nach. Sonnwin war nicht
ganz so abwesend wie Aron. Er schaute sich ab und zu um, hatte seine Augen und
sein feines Gehör überall. So waren sie schon einige Stunden gegangen, bis Aron
den Mut hatte, Sonnwin anzusprechen.
>>Wie ist das mit dem Wald?
<<
Er hoffte, dass der Zwerg sich
inzwischen beruhigt hatte, so dass mit ihm wieder zu reden war. Der Ärger des
Zwergen war tatsächlich verraucht. Seine Rache würde Hagen aufs fürchterlichste
treffen, und das bereitete ihm eine diebische Freude.
>>Die Zeit vergeht dort
schneller<<, sagte er nach einer Weile.
>> Aber man wird ja nicht
zum Greis innerhalb einer Nacht, oder? <<, fragte Aron.
>>Nein<<, antwortete
Sonnwin. >>So schnell geht das nicht. Die Zeit vergeht dort schneller,
aber erst wenn man dort ein paar Monate verbringt, kann es gefährlich werden.
Das sagt auch die alte Legende. <<
>>Ja? Was sagt sie denn?
<<
Sonnwin war froh, mal wieder sein
Wissen zum Besten geben zu dürfen. In Swartalfheim hatten die Geschichten der
oberen Welt nie jemanden wirklich interessiert. Es waren allenfalls kauzige
Anekdoten, die Sonnwin bei diversen Trinkgelagen zur Belustigung erzählen
sollte. Nun fragte ihn sogar einer von der Oberfläche danach, und es war wichtig
für ihre Mission. Sonnwin war stolz. Stolz auf sich, stolz auf diese Reise. Die
Anderen würden ihm an den Lippen hängen, wenn er wieder da war. Seine
Geschichten würden bei seiner Rückkehr wahrscheinlich zum ersten Mal ernst
genommen werden.
>>Ein Schamane zweifelte
einmal an den Göttern<<, begann er mit wichtigem Tonfall und machte
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