Die Kreuzfahrerin
Kamille.
Nach und nach ordnete sie die Beutel wieder in ihre Kiste hinein und hatte schon mit dem ersten Säckchen einen Entschluss gefasst. Sie musste sich zusammenreißen. Hier im Zelt herumzusitzen drückte ihr nur aufs Gemüt. Etwas nach draußen zu gehen würde ihr sicherlich nicht schaden. Also beschloss sie, erst einmal zu der gestrigen Stelle zu gehen und dann in der Umgebung nach weiteren Pflanzen zu schauen. Irgend etwas würde sie schon finden. Sie füllte sich einen kleinen Schlauch mit Wasser und hängte ihn sich über die Schulter, so wie den großen Stoffbeutel, den sie schon immer zum Sammeln verwendet hatte. So gerüstet trat sie erneut vor das Zelt. Der Wind hatte sich gedreht, und statt des Rauches der Leichenfeuer wehte ihr vom Rand des Lagers der Gestank dessen entgegen, was tausende Wallfahrer hinter den Büschen, in einem ausgehobenen Graben zurückgelassen hatten. Ursula ging etwas schneller, um aus dem schlechten Wind zu kommen, doch sie kam einfach zu schnell außer Atem. Als sie schließlich ein ganzes Stück gegangen war, blieb sie stehen, sah zurück auf das Meer der Zelte und atmete die nun frische Luft tief ein.
Wie lange mochte es jetzt her sein, dass sie zum ersten Mal auf diese unglaubliche Ansammlung von Menschen hinabgeschaut hatte? Sie und Hilde waren damals schon eine Weile unterwegs gewesen, hatten es aber vermieden, in größeren Gruppen mitzuziehen, da sie nichts mit alldem, was sie auf ihrer Wanderung mit ansehen mussten, zu tun haben wollten. In der Überzeugung, mit dem Erreichen Jerusalems aller Sünden enthoben zu werden, schien sich das Volk aufgemacht zu haben, bis dahin zu sündigen, wo es nur ging. Es wurde gestohlen, geplündert, gebrandschatzt, gemordet und vergewaltigt. Wie eine biblische Plage zogen die Mengen durch das Land und hinterließen Trauer und Not. Je weiter der Zug nach Osten drang, desto mehr Menschen schlossen sich zusammen, und eines Nachmittags erblickten Hilde und sie zum ersten Mal, welche Ausmaße die Pilgerschaft angenommen hatte. Es war einige Tage vor Konstantinopel, als sie von einer Anhöhe den kaum überschaubaren Zug all jener sahen, die Peter dem Einsiedler gefolgt waren. Nie zuvor in ihrem Leben hatte Ursula so viele Menschen auf einem Haufen gesehen. Noch beeindruckender war dann der Anblick des Lagers vor den Mauern Konstantinopels gewesen. Dicht an dicht standen graue und braune Zelte, kleine und große, dazwischen Wagen, und überall stieg der Rauch von Feuern empor und erfüllte die Luft. Drohend stand diese Wolke wie ein schlechtes Zeichen über dem Lager, und darunter wimmelte es von Menschen und Tieren, dass Ursula sogleich an einen Ameisenhaufen denken musste. Der Wind trug Gekreische von Menschen und Tieren heran und einen Dunst, der schon von weitem unerträglich schien. Hilde hatte Ursula, die am liebsten sofort kehrtgemacht hätte, überreden müssen, sich diesen Heerscharen anzuschließen, die alle den gleichen Weg hatten.
Wie anders sah das Lager nun aus, seitdem die französischen Ritter in Konstantinopel die Führung übernommen hatten. In der Mitte gab es einen großen Platz. Drumherum standen mit bunten Wimpeln und farbigen Bahnen die Zelte der Ritter und Adligen. Alle anderen Zelte standen wohlgeordnet, mit Gassen dazwischen zu einzelnen Lagern versammelt. Alles sah aufgeräumter, geordnet und sauberer aus.
Selbst hier war noch ein wenig des nicht weit entfernten Meeres im Wind zu spüren. Sie schleppte sich weiter, noch eine kleine Anhöhe hinauf, um herauszufinden, wohin sie gehen sollte. Oben angekommen verblüffte sie, wie nahe die Stadt doch war. Ohne Schwierigkeiten konnte sie einzelne Köpfe auf der Mauer ausmachen. Ob man sie von dort aus beobachtete? Sie ließ ihren Blick über das Land streifen. Einige vereinzelt stehende, knorrige Bäume versprachen etwas Schatten. Dazwischen gab es einige Büsche und niedrige Pflanzen, die aber schon jetzt nicht mehr wirklich grün erschienen. Wenn es hier nur einen Bach oder einen kleinen See gäbe! Sie entschloss sich, in einer Linie parallel zu der Strecke zwischen Lager und Stadt weiterzugehen und verließ den Hügel. Als sie nach etwa einer halben Stunde einen der niedrigen, knorrigen Bäume erreichte, ließ sie sich in dessen Schatten nieder. Außer etwas Thymian und einem Bund Pfefferminze hatte sie noch nichts gefunden. Sie nahm einen Schluck Wasser, wusch ein paar Blätter der Minze und zerkaute sie. Die Frische im Mund tat ihr gut. Sie döste etwas vor sich
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