Die Kreuzfahrerin
fallen.
Ursula sprang auf und rannte in den Wald, als wäre eine ganze Horde Wildschweine hinter ihr her. Sie lief und lief, immer bergan, ihre Lunge brannte, die Beine wurden immer schwerer, aber sie mochte nicht anhalten. Schließlich rutschte sie aus und blieb mit dem Gesicht im feuchten Laub liegen. Sie bekam kaum noch Luft, ihr Mund war völlig ausgetrocknet, ihr ganzer Körper bebte, es rauschte in ihren Ohren, und sie begann zu weinen. Es dauerte eine ganze Weile, bis ihre Atmung wieder langsam und regelmäßig ging und sie in der Lage war, ihre Umgebung wahrzunehmen. Sie hörte das leise Plätschern von Wasser, und der Durst ließ sie auf allen Vieren wie ein Tier in die Richtung kriechen. Am Bächlein angekommen trank sie mit der Nase im Wasser wie eine Kuh. Als sie ihren Durst gestillt hatte, konnte sie sich endlich aufrappeln. Sie erkannte die Gegend und hatte nur noch wenige Schritte zu ihrem Felsen. Am Rand des Tümpels riss sie sich die Kleider über den Kopf und tauchte, immer noch weinend, sofort in das eiskalte Wasser. Der Schock der Kälte ließ sie nach Luft schnappen und ans Ufer zurückklettern. Dort saß sie mit angezogenen Beinen und untersuchte sich selbst. Nein, sie blutete nicht, aber zwischen ihren Schenkeln war alles rot und wund. Sie setzte sich zurück ins Wasser und wusch sich ausgiebig. Dann wurde ihr unsäglich kalt, und sie schlüpfte schnell wieder in ihre Kleider. Sie saß da auf dem noch warmen Stein und zitterte am ganzen Körper. Was hatte Ludger ihr angetan? Musste das so sein? Schmerzlich und seltsam zugleich? Sie war ein Weib, und Weiber waren dazu da. Und doch fühlte es sich nicht richtig an. Ursula wusste, sie musste mit jemanden darüber sprechen. Ute kam dafür nicht in Frage. Zu ungeheuerlich empfand das Mädchen, was ihr geschehen war. Ester war die einzige, der sie glaubte, davon erzählen zu können.
Vor den Mauern Arqas,
14. April 1099
Ursula schreckte hoch. Schmerzlich spürte sie den Druck auf ihre Blase. In der Dunkelheit des Zeltes ließ sie sich seitwärts vom Lager gleiten, tastete sich auf allen Vieren bis zum nächsten Schemel, stützte sich auf und erhob sich langsam. Hilde schnarchte vernehmlich, und auch aus den benachbarten Zelten vernahm sie die Geräusche Schlafender. Vorsichtig tastete sie sich zum Eingang des Zeltes und trat unter dem Stoff hervor. Es war eine sternenklare Nacht. Warum nur schien der Himmel hier näher, die Sterne heller und klarer, als in der Heimat? Ursula wankte weiter hinter die Zelte und hockte sich hin. Während sie sich erleichterte, dachte sie an ihren Traum. Wie anders war es doch mit Roderich. Er war so behutsam und zärtlich, und es fühlte sich viel schöner und lustvoller an, als es je mit dem grobschlächtigen Bauernburschen gewesen war. Auch die anderen Männer, mit denen sie das Lager geteilt hatte, waren ihr gegenüber freundlicher, respektvoller gewesen. Ludger hatte sie immer genommen wie ein Tier. Gott hat gefügt, die Frau sei des Mannes Untertan, aber das bedeutete doch nicht, dass man ihren Körper und ihre Gefühle nicht zu achten brauchte. So richtig glücklich war sie erst jetzt mit Roderich. Alles davor war längst in den Schatten all ihrer wunderbaren Gefühle und Erlebnisse mit ihm getreten. In Gedanken versunken schlich sie zurück ins Zelt, fand auf dem Tisch ihren Becher, in dem noch etwas Tee stand. Sie trank und legte sich zurück aufs Lager.
Auf dem Hof des Bauern Matthes,
Herbst 1094
Auf ihrem Felsen war ihr zu kalt geworden, und so machte sie sich dann doch auf den Weg zurück. Unterwegs fiel ihr auf, dass sie ihren Korb bei der Flucht auf der Wiese stehengelassen hatte. Ohne ihn konnte sie nicht heimkehren. Also schlug sie den Weg zur Lichtung ein, vorsichtig und leise. Doch nichts und niemand stellte sich ihr in den Weg. Ludger war nicht mehr da, und der Henkel des Korbes ragte aus dem hohen Gras. Als sie ihn ergriff, sah sie, dass nun viel mehr Pilze darin waren als zuvor. Ludger musste ihr diesen Gefallen getan haben. So kehrte sie auf den Hof zurück, und alles war wie sonst und doch nicht mehr so wie noch vor wenigen Stunden. Ludger und sie vermieden es, sich anzusehen, und Ursula brannten ihre Gedanken auf der Zunge. Sie musste aber noch ein paar Tage warten, bis es ihr gelang, mit Ester allein und ungestört zu sein. Auf einem Baumstamm sitzend erzählte sie der Alten alles, was vorgefallen war. „Dieser Hundsfott!“, entfuhr es Ester, nachdem Ursula ihre Erzählung beendet hatte.
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