Die Kreuzweg-Legende
schienen regelrechte Fragezeichen zu stehen. Ein seltsames Schweigen empfing uns, als wir die Türen öffneten und ausstiegen. Die Ruhe wurde nur einmal durch ein Hüsteln unterbrochen.
»Ist das alles normal?« fragte ich den Polen.
Kasimir schüttelte den Kopf. »Nein, bestimmt nicht.« Er rieb sich das Kinn. »Verstehe ich auch nicht. Das sieht mir eher nach einer außergewöhnlichen Versammlung aus.«
»Vielleicht ist etwas passiert«, vermutete Suko.
Kasimir nickte. »Werden wir ja gleich wissen.«
Bevor wir die Iitiative ergreifen konnten, löste sich der junge Mönch aus der Reihe der Versammelten und kam auf uns zu. Sein Blick war fragend auf uns gerichtet. Iri den Augen las ich Neugierde und auch ein wenig Mißtrauen.
»Guten Tag«, grüßte Kasimir und reichte dem Mönch die Hand, die dieser nur zögernd nahm, dann aber herzlich drückte. Die beiden unterhielten sich. Suko und ich verstanden kein Wort. Dennoch langweilten wir uns nicht, denn Kasimir erklärte zusätzlich sehr gestenreich. Er deutete ab und zu auch auf die kleine Holzkirche. Das Mißtrauen war aus den Gesichtern der Menschen gewichen. Es hatte Neugierde Platz geschaffen. Allmählich trauten sie sich wieder, näher zu kommen. Gespannt hörten sie zu.
Als Kasimir Wojtek seine erste Rede beendet hatte, drehte er sich zu uns um. Er lachte. »Ihr habt Glück, denn Marcus St. Immel versteht eure Sprache.«
Das war wirklich gut.
Wir stellten uns vor, und der junge Mönch wandte sich mit einer gemurmelten Entschuldigung ab, um zu den Dorfbewohnern einige Worte zu sprechen.
Kasimir übersetzte sie. »Er hat ihnen gesagt, daß sie keine Angst mehr zu haben brauchen.«
»Wovor?« fragte Suko.
»Der Reiter ist aufgetaucht.«
»Tatsächlich?« wunderte ich mich.
»Alles deutete daraufhin. St. Immel ist ihm übrigens begegnet und nur knapp mit dem Leben davongekommen. Er will sich auch mit uns unterhalten, aber nicht hier, sondern beim Pfarrer, der den Reiter ebenfalls gesehen und den es erwischt hat.«
»Tot?« fragte ich.
»Nein. Er ist verletzt und liegt im Bett.«
Mir fiel ein erster kleiner Stein vom Herzen. Ich war immer heilfroh, wenn ein Fall abgeschlossen werden konnte, ohne daß es Tote gegeben hatte. Aber soweit waren wir noch nicht.
Der Mönch hatte seine Ausführungen beendet. Als er sich uns zuwandte, lösten sie die Menge auf. Die Menschen schritten davon. Sie sprachen miteinander.
»Es hat sie doch geschockt«, erklärte uns St. Immel. »So etwas ist nicht zu fassen.«
Wir stellten uns vor.
»Aus London kommen Sie?« wunderte sich der Mönch. »Da gibt es irgendwie eine Verbindung zwischen Szetisch und Ihrer Stadt.«
»Ich weiß. Die Marienfigur.«
St. Immel riß die Augen auf. »Ja, Sie sagen es!« gab er erstaunt zurück.
»Woher wissen Sie davon?«
»Ich habe die Figur selbst gesehen.«
»Weinte sie blutige Tränen?« fragte der Mönch, bevor ich noch weiterreden konnte.
»In der Tat.«
St. Immel atmete tief ein. Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. Er wischte ihn mit dem Handrücken weg. »Das ist ja nicht zu fassen. Ich hatte es nicht glauben wollen, und jetzt…« Ihm fehlten die Worte.
»Leider ist die Figur zerstört worden«, erklärte ich weiter. »Ich selbst habe es gesehen. Zuerst weinte sie, dann fiel sie nach einer puffenden Explosion ineinander. Zurück blieb Staub oder Asche, ganz wie Sie wollen.«
»Dann ist also alles vorbei?« fragte St. Immel.
»Leider.«
Der Mönch schüttelte den Kopf. »Ich muß es dem Pfarrer berichten. Wenn er das hört, bricht für ihn eine Welt zusammen. Diese Marienfigur war der letzte Schutz oder die Warnung gegen den Reiter, wenn Sie verstehen. Jetzt ist es aus.«
»Wir sind ja da!« erklärte Kasimir und fügte ein optimistisches Lachen hinzu.
Der Mönch wollte es ihm nicht so recht abnehmen. »Unterschätzen Sie die Gefahr auf keinen Fall«, erklärte er. »Der Reiter ist gefährlich.«
»Wo haben Sie ihn denn getroffen?« erkundigte sich Suko.
St. Immel drehte sich und zeigte nach Südosten. »Im Wald. Ich lebe dort als Eremit und verlasse nur selten meine Hütte, um ins Dorf zu gehen. Auf einem schmalen Weg kam er mir entgegen.«
»Und er kam von?«
»Praktisch aus dem Ort.«
»Hat es hier schon einen…« Ich schlug mir gegen die Stirn. »Natürlich, der Pfarrer ist angegriffen worden. Aber können Sie sich denken, Pater, was sein Ziel war?«
»Ich habe nur eine Vermutung, mehr nicht.«
»Sprechen Sie diese aus«, forderte Kasimir Wojtek.
»Ja,
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