Die Krieger 2 - Der Verrat der Königin
sie vieles nicht mehr wusste, nicht einmal ihren eigenen Namen, erinnerte sie sich noch gut an das sanfte Schaukeln des Tiers. Sie hatte sogar das Gefühl, immer noch von den gleichmäßigen Bewegungen des Pferdes gewiegt zu werden. Nur war es diesmal dunkel. Oder doch nicht ganz … Aber der Himmel schien immer weiter in die Ferne zu rücken. Es würde sich bald klären, wie das alles zusammenhing. Ganz sicher. Wenn sie nicht vorher wieder in den Tiefen Traum abglitt … Sie war ihm noch so nah: Sie musste nur die Augen schließen und sich treiben lassen. Doch sie schaffte es nicht, sich von dem Himmel und der seltsamen schwarzen Mandel, die darunter schwebte, zu verabschieden. Noch nicht.
Ihr war kalt, aber sie spürte keinen Wind auf dem Gesicht. Vielleicht befand sie sich im Innern einer Windhose? Ihr Körper fühlte sich leicht an und zugleich bleischwer. Sie fragte sich, warum ihr jede Bewegung so mühsam vorkam. Und wo war bloß das Pferd? Ach ja, es gehörte in den Tiefen Traum. Bei diesem Wind wäre es ohnehin kaum vorwärtsgekommen. Und atmen konnte sie auch nicht richtig. Das alles war sehr unangenehm. Außerdem störten sie ihre Kleider, vor allem ihre Stiefel, die schwer an ihren Füßen zogen. Sie würde die Stiefel ausziehen, sobald der Tiefe Traum sie freigab, doch das schien diesmal sehr lange zu dauern. Sonst war sie immer innerhalb weniger Augenblicke in die Wirklichkeit zurückgekehrt – das wusste sie mit Sicherheit, auch wenn sie den Sinn dieser Erinnerung nicht verstand. Und warum hörte sie eigentlich keine Geräusche?
Ihr Großvater machte sich bestimmt Sorgen, weil sie mitten in der Nacht ganz allein unterwegs war. Vielleicht sollte sie nach ihm rufen. Aber jedes Mal, wenn sie den Mund öffnete, holte der Tiefe Traum sie wieder ein. Und Großmutter Ispen? Sie würde liebevoll mit ihr schimpfen, wenn sie sah, dass ihre Lieblingsenkelin bis auf die Knochen durchnässt war.
Naiok, du holst dir noch den Tod,
würde sie sagen.
Niss wollte sich nicht den Tod holen, aber sie konnte schließlich nichts dafür, dass der Wind in Wahrheit ein Fluss war. Es war nicht ihre Schuld, dass sie hineingefallen war, und es war auch nicht ihre Schuld, dass der Himmel immer weiter in die Ferne rückte, während sie immer tiefer in einem Traum versank, der kein Ende zu nehmen schien.
Sie wollte weg. Ihr war kalt, es war dunkel, und die Atemluft wurde allmählich knapp.
Außerdem hatte sie anderes zu tun. Zum Beispiel musste sie sich um diesen Jungen kümmern und um andere, die sie vermissen würden. Großvater Bowbaq wäre untröstlich, wenn sie starb …
Das Wort stieß etwas in ihr an.
Sterben.
Der Tiefe Traum. Das Eichhörnchen. Sie wollte nicht … Nicht schon wieder!
Als sie den Mund öffnete und einen stummen Entsetzensschrei ausstieß, strömte ihr Salzwasser in die Kehle. Endlich begann sie zu kämpfen. Das Meer. Die Dunkelheit.
Das fahle Licht der Oberfläche. Mit aller Kraft strampelte sie nach oben, auf das rettende Licht zu. Ihr Name war Niss. Sie war dreizehn Jahre alt und wurde von einer Menge Menschen geliebt. Sie durfte jetzt nicht sterben, nicht so weit weg von zu Hause, nicht in diesen eiskalten Fluten.
Sie kämpfte um ihr Leben, verängstigt und schon halb ohnmächtig, aber der Himmel kam nicht näher. Die wenige Luft, die ihr noch blieb, würde nicht reichen. Ohne es zu wollen, öffnete sie wieder den Mund und verschluckte sich an einem weiteren Schwall Wasser. Obwohl ihr die Ohren summten und ihr Blut keinen Sauerstoff mehr zu den Gliedern transportierte, musste sie schwimmen, immer weiter schwimmen, so weit wie möglich, hin zu dem Schiff, das sich bereits entfernte, hin zu einem Ort, an dem sie endlich wieder atmen konnte …
Aber es war zu spät. Als sie nur noch wenige Schritte von der Wasseroberfläche entfernt war, griff der Tiefe Traum wieder nach ihr. Ihre Kräfte ließen nach. Sie spürte, wie die Finsternis sie umfing und ihr unmögliche Dinge vorgaukelte. Zum Beispiel einen Mann mit kahl geschorenem Schädel, der ihre Hand packte.
***
»Eurydis! Eurydis!«, schluchzte Eryne immer wieder. »Habt Erbarmen! So etwas dürft Ihr nicht zulassen!«
Ihr Kummer war fast so herzzerreißend wie Bowbaqs Verzweiflung. Während er zum hundertsten Mal an der Reling entlanglief und mit starrem Blick das Wasser absuchte, rannen ihm stumme Tränen übers Gesicht. Wenn Amanon und Nolan ihn nicht daran gehindert hätten, wäre er längst ins Meer gesprungen. Aber was konnte er schon
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