Die Krieger 4 - Das Geheimnis der Pforte
ebenso fremd wie in Goran. Das seltsame Verhalten der Menschen, die sich in den Straßen drängten, die Stuckfassaden der Häuser und Tempel und der religiöse Eifer, der allenthalben zu beobachten war, bereiteten ihr Unbehagen. Wo sie auch hinsah, hatten sich Gläubige zum Gebet niedergekniet oder waren in ein rätselhaftes Ritual vertieft. Durch sämtliche Gassen hallten Gesänge, Predigten und Fürbitten, und bei jedem Atemzug stiegen ihr beißende Weihrauchdämpfe in die Nase.
Nolan rief den anderen zu, dass er die Stadt noch nie so voll erlebt habe, außer vielleicht an einem der offiziellen Feiertage. Und dabei war es noch früh. Nach Mittag würde das Gedränge in den Gassen weiter zunehmen. Dass sich plötzlich so viele Menschen den Göttern zuwandten, lag wohl am bevorstehenden Krieg.
»Oder daran, dass zwischen Göttern und Dämonen ein Kampf auf Leben und Tod ausgebrochen ist«, raunte Nolan Zejabel zu.
Möglicherweise spürten die Gläubigen, dass Sombre ihre Götter in Angst und Schrecken versetzte. Ob die Unsterblichen die frommen Bemühungen ihrer Anhänger überhaupt bemerkten? Während sich Zejabel durch die Gassen schob, in denen auf Schritt und Tritt betende Pilger knieten, vorbei an überfüllten Tempeln und Heiligtümern, hatte Zejabel den Eindruck, als nahte das Ende der Welt. Und wer wusste besser als sie und ihre Freunde, dass tatsächlich das Schicksal der Menschheit auf dem Spiel stand?
In ihrer Beklommenheit war Zejabel dankbar, dass Nolan sie abzulenken versuchte. Immer wieder erklärte er ihr einen religiösen Brauch oder eine rätselhafte Zeremonie. Bisweilen ergriff er sogar ihre Hand, um ihr durch eine Menschenansammlung zu helfen. Seine Fürsorge brachte sie zum Schmunzeln, schließlich war sie um einiges stärker und kampferprobter als er und hätte sich mühelos allein einen Weg durch die Menge bahnen können. Dennoch genoss sie es, derart galant behandelt zu werden. Bis vor kurzem hatte sie nicht einmal gewusst, was das Wort »galant« überhaupt bedeutete. Erst Erynes Frage, ob sie trotz Zufas Tinkturen noch schwanger werden könne, hatte ihr die Augen geöffnet: Auch sie sehnte sich danach, geliebt zu werden. Sie hatte Nolan nur einmal tief in die Augen sehen müssen, um ihn wissen zu lassen, dass sie bereit war.
Seither konnte sie es kaum erwarten, ihn erneut zu küssen, so wie in der Nacht nach ihrer ersten Begegnung. Doch diesmal wollte sie ihm die Initiative überlassen.
Vielleicht würden sie ja sogar hier in Ith zueinanderfinden. Nolan hatte viel von der Heiligen Stadt erzählt, und ihr war klar, dass er sich trotz der schlechten Erfahrungen, die er hier gemacht hatte, über die Rückkehr freute. Auch ihr gefiel die Stadt, einmal abgesehen von dem religiösen Wahn, der sich in den Straßen abspielte. Majestätisch überragte der Blumenberg die Häuser, und im Norden und Süden erhoben sich die schroffen Felswände des Rideau wie eine unüberwindliche Mauer, die den Sterblichen vor Augen führen sollte, wie unbedeutend sie waren.
Irgendwo in diesen Bergen entsprang der Alt, der größte Fluss der bekannten Welt. Niemand wusste, wo seine Quelle war, und niemand hatte es bisher geschafft, sämtliche Zuflüsse zwischen der Heiligen Stadt und dem Spiegelozean auf einer Landkarte zu verzeichnen. Um zu verhindern, dass die Heilige Stadt bei Hochwasser überschwemmt wurde, hatten die Bewohner über die Jahrhunderte ein Netz aus Kanälen angelegt. Unzählige Brücken, jede mit ihrer eigenen Geschichte und Architektur, überspannten die Wassergräben. Sie passierten eine Gruppe ehrwürdiger Greise, die auf einem steinernen Geländer meditierten. Offenbar wurden sogar auf den Brücken Gottesdienste und spirituelle Rituale zelebriert. Nolan bestätigte, dass in Ith auch jeder Brunnen, jede Fontäne und jedes noch so kleine Wasserbecken religiösen Zwecken diente.
»Außerdem bringen die Pilger dem Fluss regelmäßig Opfergaben dar«, fuhr Nolan fort. »Auf dem Grund des Alt müssen Abertausende Goldterzen liegen.«
»Versucht denn niemand, danach zu tauchen?«
»Das kommt so gut wie nie vor. Wer sich erwischen lässt, wird zum Ketzer erklärt und für immer aus der Stadt verbannt. Das hat eine abschreckende Wirkung. Außerdem heißt es, der Fluss werde sich eines Tages rächen.«
»Vermutlich wegen der Legende von dem Totenheer, die auch in Goran weitverbreitet ist«, warf Amanon ein.
Zejabel interessierte sich nicht sonderlich für Geld, denn es hatte ihr bisher an nichts
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