Die Krieger 4 - Das Geheimnis der Pforte
sie wussten, wie es weiterging, gab es nichts mehr zu sagen. Sie mussten nur noch entscheiden, wann sie aufbrechen sollten, aber niemand wagte, Amanon danach zu fragen.
So verbrachten die Erben eine weitere Nacht in der Heiligen Stadt, eine Nacht voller Albträume und Ängste.
Hunderte Bilder und Stimmen wirbelten durch ihren Kopf, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte. So erging es Eryne Nacht für Nacht, seit ihre Entwicklung zur Göttin begonnen hatte. Im Schlaf war sie keine gewöhnliche Sterbliche mehr, sondern lauschte fremden Menschen, mal unzähligen, mal nur einer Handvoll. Anfangs war es ihr völlig willkürlich vorgekommen, welche Stimmen sie im Zustand der Entsinnung vernahm, aber allmählich entdeckte sie eine gewisse Logik darin: Seit sie den Beinamen »die Heilende« erhalten hatte, hörte sie immer häufiger die Gedanken von Kranken, Verwundeten oder Menschen in Not.
Der Schmerz, den sie dabei empfand, nahm sie sehr mit, und jeden Morgen wachte sie mit schwerem Herzen auf. Sie hätte viel darum gegeben, nicht mehr schlafen zu müssen. Andererseits hatte sie seit kurzem den Eindruck, den Notleidenden etwas Gutes tun zu können. Die Männer, Frauen und Kinder, die um Linderung ihrer Qualen beteten, ahnten nicht, dass sie tatsächlich von einer angehenden Göttin erhört wurden, und sie spürten nichts von der Wärme, die Eryne ihnen sandte und die bisweilen zu ihrer Heilung beitrug.
Eryne wusste, dass sie dadurch Gefahr lief, die Aufmerksamkeit ihrer Feinde zu erregen. Wenn Sombre, Zuia oder andere Dämonen in den Diensten des Bezwingers sich in der Umgebung von Ith aufhielten, würden sie ihre Anwesenheit sofort bemerken. Ihre göttliche Ausstrahlung wurde von Tag zu Tag stärker, nach und nach würde sich die Wirkung ihrer Kräfte über die gesamte Welt erstrecken. Dann könnte sie nirgends mehr Zuflucht finden.
Dennoch brachte sie es nicht über sich, die armen Seelen, deren Seufzen und Flehen sie vernahm, ihrem Schicksal zu überlassen. Sie musste ihnen einfach helfen. So war es ihr bestimmt, das spürte sie tief in ihrem Innern. Offenbar befolgte sie damit die rätselhaften Gesetze, die im Reich der Götter und Dämonen herrschten. Jeder Unsterbliche war eigenen Regeln unterworfen, die sein Wesen für immer prägten. So sprach Usul Prophezeiungen aus, deren Erfüllung ungewiss war, Nol der Seltsame besuchte die Menschen, sobald in ihrer Welt zehn Generationen vergangen waren, und Zuia ließ jeden hinrichten, für dessen Tod ihr genügend Gold geboten wurde. Diesen Zwängen konnte sich kein Gott entziehen, ebenso wenig wie ein Mensch beschließen konnte, nicht mehr zu atmen. Die Unsterblichen verhielten sich so, wie die Menschen es ihnen zugedacht hatten, und Erynes Daseinszweck war es, Kummer und Schmerz zu lindern.
In dieser Nacht spürte sie besonders viel Leid und Verzweiflung.
Die Eindrücke stürmten unvermittelt auf sie ein, als würde leichter Regen plötzlich in ein heftiges Gewitter übergehen. Innerhalb weniger Dezillen wurden ihre Träume von grausamen, blutigen Bildern erfüllt. Menschen kreischten und brüllten, als sich ihnen scharfe Klingen in den Leib bohrten. Andere wimmerten vor Schmerz, während sie ungläubig auf ihre klaffenden Wunden und abgeschlagenen Gliedmaßen starrten, bis ihre Lebensgeister schwanden. Wieder andere beteten nur noch darum, durch einen raschen Tod von ihrem Leiden erlöst zu werden. Trotz ihrer Verstörung versuchte Eryne, so viel Not wie möglich zu lindern, aber mit jedem Augenblick wurde es schlimmer. Es schien einfach kein Ende nehmen zu wollen.
Das Schreien und Sterben wirkte so echt, dass sie schon um ihr eigenes Leben zu fürchten begann, als sie plötzlich jemand an der Schulter rüttelte. Zwischen Träumen und Wachen hörte sie noch den Klageruf eines Kämpfenden, bevor sie vollends in die Wirklichkeit zurückkehrte. Es war immer noch Nacht. Zejabel beugte sich über sie und legte einen Finger an die Lippen. Niss war ebenfalls wach und stand am Fenster. Von der Straße drang Gebrüll herauf, und der Schein zahlloser Fackeln und Laternen fiel ins Zimmer.
»Die Lorelier greifen Ith an«, wisperte Eryne.
Zejabel nickte kurz und bedeutete ihr aufzustehen. Eryne setzte die Füße auf den Boden, während sich die Zü rasch ihre Kleider überzog. Ihr Herz pochte wie wild. Sie hatte gleich begriffen, was vor sich ging, schließlich hatte sie die Kämpfe im Zustand der Entsinnung durch die Augen der Sterbenden mitverfolgt. Auf beiden Seiten
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