Die Krieger 4 - Das Geheimnis der Pforte
Lemurenkörper wich, während sich ein Schwall schwarzen Bluts über ihr Brustfell ergoss. Wenn sie den Körper nicht sofort verließ, würde sie wieder im Tiefen Traum versinken. Und diesmal würde ihr Eryne nicht zu Hilfe kommen. Sie würde ihr nie wieder helfen können.
Mit dem Mut der Verzweiflung beschloss Niss, alles auf eine Karte zu setzen und das zu tun, womit der Lemur am wenigsten rechnete: Sie krallte sich an ihm fest und schob ihn auf den Abgrund zu. Ihr Gegner stolperte und versuchte sich ihrem unerbittlichen Griff zu entwinden, aber sie hatte schon zu viel Schwung genommen. Die beiden blutüberströmten, ineinander verkeilten Leiber stürzten zusammen in den sicheren Tod. Niss hörte den Wind pfeifen, und einen Augenblick lang sah sie den Felsen heranrasen, auf dem gleich ihr Schädel zerschmettern würde …
Dann erwachte sie in ihrem eigenen Körper.
Äußerlich war sie unversehrt, doch die grauenvolle Erfahrung hatte sie zutiefst verstört.
Sie musste erst ein paarmal durchatmen, um wieder vollends zu sich zu kommen und die Kontrolle über ihre Bewegungen zurückzuerlangen. Zunächst konnte sie nur mühsam blinzeln. Als sie die Augen ganz öffnete, sah sie, wie sich Cael über die leblose Eryne beugte und ihr den Dolch aus der Brust riss.
»Du dachtest wohl, dass ich darauf hereinfalle«, sagte er mit eiskalter Stimme.
Niss spürte ihre Kräfte nach und nach zurückkehren; sie stützte sich auf die Ellenbogen, wollte protestieren und den wahren Cael zum Widerstand gegen den Dämon aufrufen, doch dazu kam sie nicht mehr. Amanon hatte Bowbaq den Kampf gegen den Lemuren überlassen, um Eryne zu Hilfe zu eilen: Er ging auf seinen Cousin los und versetzte ihm einen so heftigen Stoß, dass er hinfiel und erst einige Schritte weiter wieder aufsprang. Gram und Leid standen Amanon ins Gesicht geschrieben, und selbst sein Körper wirkte wie verkrümmt vor Schmerz, als er sich zwischen seine Geliebte und den Jungen stellte, um zu verhindern, dass er sich ihr noch einmal näherte. In diesem Moment schien in dem sonst so stillen Amanon ein Wahn aufzublitzen, der Caels Raserei glich. Wenn niemand eingriff, würden die beiden Cousins einander töten.
Cael setzte bereits ein höhnisches Grinsen auf, als plötzlich von Himmel ein dumpfer, gleichmäßiger Schlag ertönte, der immer lauter wurde. Alle erstarrten. Selbst die letzten beiden Lemuren hielten inne, legten die Köpfe in den Nacken und ergriffen dann panisch die Flucht. Bevor sie im Eingang des Höhlenlabyrinths verschwinden konnten, spaltete Bowbaq dem einen mit einem gewaltigen Hieb den Schädel, während Keb dem anderen eine Pranke abhackte und ihn in Nolans und Zejabels Klingen trieb.
Umringt von den Kadavern der Lemuren und den Leichen ihrer menschlichen Wärter standen die Erben da und sahen furchtsam zum Himmel. Der Dämon in Caels Körper, der eher gespannt als ängstlich wirkte, tat es ihnen gleich. Niss kniff die Augen zusammen, doch in der Dunkelheit konnte sie nicht erkennen, was das Geräusch verursachte. Erst als sie in der Höhe einen gigantischen Schatten ausmachte, der sich wie eine Wolke vor die Sterne schob, begriff sie, was da auf sie zukam.
Ein geflügeltes Wesen schwebte auf sie herab, ein Wesen mit so gewaltigen Schwingen, dass jeder Flügelschlag von den Bergwänden widerhallte und einen Windstoß über die Ebene fegte.
Die Gefährten wechselten hilflose Blicke und schienen auf eine Reaktion von Amanon zu warten, doch der war vor Schmerz und Zorn völlig außer sich. Kebs Gesicht hingegen war wie versteinert. Mit Erynes Tod hatte die Gemeinschaft der Erben ihre Besonnenheit und ihren Zusammenhalt verloren. Als wäre mit Eryne auch der Sinn ihrer Suche dahin, als bliebe ihnen nichts mehr als ein letzter einsamer Kampf.
Kaum hatte Niss diesen Gedanken gefasst, da vernahm sie plötzlich ein leises Pfeifen, das immer weiter anschwoll, bis es so unvermittelt abbrach, wie es begonnen hatte. Nach der ersten Verwirrung fiel ihr ein, dass sie diesen durchdringenden Ton schon einmal gehört hatte. Ein einziges Mal. In der unterirdischen Höhle auf Ji.
Aufgeregt drehte sie sich zu dem steinernen Bogen um, hinter dem wie ein riesiges Maul der Eingang zum Labyrinth klaffte. Einen Augenblick später bestätigte sich ihre Vermutung. Die Dunkelheit unter der Pforte begann zu wabern, bis inmitten der Schwaden ein winziger Lichtpunkt aufleuchtete, wie eine fliegende Flamme, die sich rasend schnell ausbreitete und schließlich die gesamte
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