Die Krieger 5 - Das Labyrinth der Götter
sein Opfer losging, ließen keinen Zweifel an seiner Vergangenheit: Binnen weniger Augenblicke hatte er Keb, der keine Anstalten machte, sich zu wehren, außer Gefecht gesetzt.
Erst als Reyan mit dem Ausdruck puren Hasses im Gesicht den blutigen Dolch an sich riss, erwachten die anderen aus ihrer Starre und schritten ein. Auch Niss stürzte vor, obwohl sie kaum mehr wusste, was sie tun und denken sollte. Zejabel und Amanon sprangen über Erynes reglosen Körper hinweg, gefolgt von den anderen. Zuletzt stellte sich Bowbaq schützend vor Keb.
»Er hat meine Tochter erstochen!«, rief Rey halb schluchzend. »Nolan! Er hat deine Schwester getötet!«
»Vielleicht hat er gerade das Gegenteil getan, Vater«, sagte Nolan mit zitternder Stimme. »Du kennst unsere Geschichte noch nicht.«
»Wenn er sich geirrt hat, wird er die nächste Dezille nicht überleben, das schwöre ich«, presste Amanon zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Nicht alle hatten seine Worte gehört, aber Niss blickte erschrocken in das versteinerte Gesicht des Kaulaners. Aus Kebs Miene hingegen sprach so tiefer Gram, dass Niss schon fast Mitleid mit ihm hatte – ein Gefühl, das in grenzenlose Dankbarkeit und Bewunderung umschlug, als Eryne ein ersticktes Husten von sich gab.
Ein Raunen ging durch die Reihen der Erben, dann gerieten alle in helle Aufregung. Einige stützten Eryne, die sich blinzelnd aufrichtete, öffneten ihr die Bluse, um die Wunde zu versorgen und das Blut abzuwischen … Doch von einer Verletzung war nichts mehr zu sehen.
Ehrfürchtiges Schweigen trat ein, nur hier und da waren noch unterdrückte Schluchzer und Seufzer der Erleichterung zu hören. Als Eryne die Augen öffnete, sah sie nacheinander in die Gesichter, die sich über sie beugten, und der Schatten eines Lächelns huschte über ihre bleichen Züge. Damit war der Bann gebrochen: Die Erben jubelten vor Freude, während Lana ihre Tochter in die Arme nahm und sanft hin- und herwiegte. Eryne war zu ihnen zurückgekehrt.
Reyan war von diesem Wechselbad der Gefühle so überwältigt, dass er kein Wort herausbrachte. Stumm half er Keb auf und legte ihm mit Tränen der Dankbarkeit in den Augen die Hände auf die Schultern, bevor er zu seiner Tochter eilte. Niss wollte sich nicht zwischen Eryne und ihre Eltern drängen und blieb stattdessen zusammen mit Zejabel und Harqi neben dem Held des Tages stehen. Einen Augenblick später trat Amanon auf Keb zu. Die Luft zwischen den beiden war so dick, dass man sie mit dem Messer hätte schneiden können. Schließlich brach Keb das Schweigen.
»Es war der einzige Weg«, wiederholte er und griff sich an den schmerzenden Hals. »Ich musste etwas finden, was ihr durch Mark und Bein geht. Buchstäblich.«
Amanon hielt seinem Blick stand und nickte langsam, doch seine Miene blieb angespannt.
»Wenn es schiefgegangen wäre …«
Er brach ab, zog eine Grimasse und marschierte davon. Niss sah Kebree an. Er schien sich nicht richtig freuen zu können.
Wenn es schiefgegangen wäre,
wiederholte Niss in Gedanken,
hätte Keb zweifellos für seine Schuld Buße getan.
Vermutlich hätte er nicht einmal gewartet, bis ein anderer Erynes Tod rächte.
Eryne bemühte sich, jedem Gesicht, das sich ihr zuwandte, ein Lächeln zu schenken, aber ihre Benommenheit legte sich nur langsam. Sie hatte das Gefühl, in einer Nebelwolke zu schweben, und in ihrem Kopf drehte sich alles, als wäre sie betrunken. Hin und wieder erkannte sie in einer der verschwommenen Gestalten ringsum einen geliebten Menschen, und aus dem undeutlichen Stimmengewirr drangen einzelne Wörter oder Sätze an ihr Ohr. Auch ihr Zeitempfinden war gestört: Sie hätte nicht sagen können, ob sie vor wenigen Dezillen oder vor mehreren Dekanten aus dem Zustand der Entsinnung erwacht war.
Die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne sprachen dafür, dass sie schon seit geraumer Zeit wach war und gegen den Schwindel ankämpfte. Allmählich konnte Eryne wieder klar genug denken, um zu begreifen, dass ihre Eltern und Freunde die ganze Nacht lang geduldig an ihrer Seite gewacht hatten, während sie gelegentlich wie im Fieber sprach. Als ihr plötzlich einfiel, ihren Eltern gestanden zu haben, dass sie ein Kind erwartete und nicht wusste, wer der Vater war, stieg ihr die Schamesröte ins Gesicht. Lana und Reyan hatten sich zwar über die Nachricht gefreut, aber Eryne hatte dennoch ein schlechtes Gewissen, zumal sie nicht sicher war, welche Geständnisse sie in ihrem Zustand zwischen Schlaf und
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