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Die Kristallhexe

Titel: Die Kristallhexe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Kern
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Nicken zu, dann konzentrierte sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Elche. Die Tiere wirkten nervös, sogar die Kälber hatten aufgehört zu fressen; sie blieben nahe bei ihren Müttern. Die ganze Herde war zusammengerückt. Einige Bullen schlugen mit den Flügeln. Es klang, als würde man Papier zerknüllen.
    Ein Schrei, so laut und krächzend, dass Hanin zusammenzuckte. Ein Vogel?
    Sie legte den Kopf in den Nacken und hob eine Hand, um sich vor der blendenden Sonne zu schützen. Sie sah keine Bewegung mehr in dem blassblauen Himmel; die Vögel, die dort gekreist hatten, schienen allesamt in den Wald geflohen zu sein. Der Schrei hatte auch die Elche aufgescheucht. Sie trabten bereits auf einige Bäume zu. Der Anführer der Herde, ein Bulle mit mächtigen Schaufeln, röhrte, als wolle er sie antreiben. Doch die Tiere hatten die Kälber in die Mitte genommen und passten sich deren Geschwindigkeit an. Sie kamen nur langsam voran.
    »Wovor fliehen sie?«, fragte Inran. Seine rechte Hand lag auf dem Griff des Schwerts, seine linke auf dem des Krummdolchs. Er kämpfte am liebsten mit beiden Waffen.
    »Davor.« Messan zeigte auf den See. Im ersten Moment verstand Hanin nicht, was er dort entdeckt zu haben glaubte, doch dann schluckte sie. Neben ihr stieß Neranye den Atem aus.
    Es war ein Schatten, breit wie ein Haus und schwarz wie die Nacht. Er glitt über die Wellen des Sees und nur einen Lidschlag später bereits über das Land. Es rauschte, als würde ein Sturm aufkommen, dann brach sich ein zweiter krächzender Schrei an den Bergwänden.
    »Ein Verschlinger«, sagte Neranye ruhig. Hanin hob den Kopf. Der Vogel, zu dem der Schatten gehörte, war bislang zu hoch gewesen, um ihn erkennen zu können, doch nun ging er tiefer. Sein lässiger Flügelschlag täuschte Langsamkeit vor, doch der Schatten am Boden verriet, dass er sich schneller bewegte als ein galoppierendes Pferd. Schneller als die Elche.
    Er hatte ein graues, stumpf wirkendes Federkleid und Flügel, von denen jeder so lang war wie ein ausgewachsener Mensch. Seine Greifklauen spreizte er auseinander. Hanin bemerkte mit einem mulmigen Gefühl, dass ihr Kopf mühelos in eine passen würde. Der Hals des Verschlingers war fast so breit wie sein Körper, der Kopf wirkte zu klein für den armlangen spitzen Schnabel. Nur ein Stück darunter saß ein zweiter, wesentlich breiterer und größerer Schnabel, der dem Vogel seinen Namen gegeben hatte. Kleinere Tiere konnte er damit auf einmal verschlingen, größere biss er mit den messerscharfen Kanten des Schnabels einfach durch.
    Hanin hatte noch nie einen Verschlinger gesehen, nur Geschichten über diese Wesen gehört. Karawanenführer behaupteten oft, sie wären von einem Verschlinger angegriffen worden, wenn sie Tiere verloren hatten, aber das war fast immer eine Lüge. Die Tiere waren äußerst selten, manche behaupteten sogar, es gäbe nur ein Paar in ganz Innistìr.
    »Bleibt ruhig«, sagte Hanin. »Bewegt euch nicht.«
    Der Verschlinger kreiste über der Landschaft. Er hielt den Kopf gesenkt, war aber noch so weit weg, dass man nicht erkennen konnte, auf was sich sein Blick richtete. Waren es die Elche, von denen die Ersten nun die schützenden Bäume erreicht hatten, oder etwas anderes?
    So groß war der Vogel, dass er nur auf offenem Gelände jagen konnte. Im Wald hätte seine Flügelspannweite ihn nur behindert. Hanin sah sich um, aber abgesehen von den wenigen Felsen und dem Berg im Rücken waren sie und die anderen Assassinen ungeschützt.
    »Ich hoffe, er jagt die Elche«, sagte sie leise zu Neranye, »sonst haben wir ...«
    Ein dritter Schrei unterbrach sie. Der Verschlinger legte die Flügel an und drehte sich. Wie ein Pfeil schoss er dem Boden entgegen. Sein Ziel war der hintere Teil der Herde, der die Bäume noch nicht erreicht hatte. Der Bulle mit den mächtigen Schaufeln röhrte, als er die Gefahr bemerkte. Kühe und andere Bullen drehten sich um, ihre Flügel fächerten auf, schützten die Kälber in der Mitte der Herde.
    Hanin glaubte, der Verschlinger würde wie ein Geschoss zwischen ihnen einschlagen, doch im letzten Moment breitete er die Flügel aus und schlug heftig mit ihnen. Der Sturm, die sie entfachten, ließ eine Staubwolke aufwallen und riss Blätter und Zweige von den Bäumen. Der Vogel trudelte, fing sich und stieg wieder empor.
    Die Elche gerieten in Bewegung, scharrten nervös mit den Hufen, während der Verschlinger zu einem neuen Angriff ansetzte. Hanin erkannte seine Taktik. Er

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