Die Krone der Macht
nachgehen und - einfach alle Bedenken über Bord werfend - das tun, was sein Herz ihm gebot? Doch sie war noch so jung! Männer hatten in ihrem Leben noch keine Rolle gespielt. Das würde sich vielleicht nun ändern. Auf ihrer weiten Reise mochte sie irgendwo einen Mann kennenlernen und sich in ihn verlieben - einen jungen Mann, gut gewachsenen und ihr ebenbürtig. War nicht ihre Verliebtheit in ihn nur die Angst vor Einsamkeit und die Suche nach ein wenig Geborgenheit? Konnte er wirklich so naiv sein und glauben, ihre Liebe gelte wirklich ihm, dem Krüppel?
Und plötzlich klangen in seinen Ohren wieder die gellenden Stimmen von Ki ndern auf, die ihm so oft auf den Marktplätzen der Städte nachgerufen hatten: Krüppel, Krüppel, Krüppel! Nadors Hände fuhren zu den Ohren, als könnten sie dadurch die grausamen Stimmen aussperren. Nein, sie meinte in Wirklichkeit nicht ihn! Er war nur gerade da gewesen, als sie sich verzweifelt und einsam fühlte. Er durfte und konnte ihre Hilflosigkeit nicht ausnutzen!
Mit einem Ruck drehte er sich um und ging in den Stall, um ihre Pferde zu sa tteln. Die anderen Pferde führte er nach draußen und jagte sie davon. Sie würden sich selbst helfen können und eventuell den Weg zu einem Dorf finden, wo sie dem einen oder anderen Bauern willkommene Geschenke waren. Er belud das Packpferd und legte ihm noch einen Sack mit Vorräten auf, die er im Haus gefunden hatte. Außerdem hatte er drei lederne Wassersäcke entdeckt, die er am Brunnen füllte.
Es war früher Nachmittag, als er nach Sarja rief. Sie kam aus dem Haus und b estieg wortlos ihr Pferd. Ihre Augen waren rot, und er sah, dass sie geweint hatte. Doch sie lächelte ihm leicht zu, und er tat, als habe er nichts Besonderes an ihr bemerkt.
Sie ritten in einiger Entfernung an den Scheiterhaufen vorbei, die ausgebrannt waren und nur noch schwelten. Sarja wandte sich schnell ab, doch Nador züge lte sein Pferd und blickte zurück, um sich zu vergewissern, dass nichts von dem Bösen übriggeblieben war. Er sah nur noch ein paar weiße Knochen zwischen den verkohlten Holzscheiten liegen. Aufatmend trieb er sein Pferd an und folgte Sarja, die in raschen Trab voranritt. Als er sie eingeholt hatte, rief er ihr zu:
„Ich hoffe, dass wir unsere Verfolger auf diesem Weg hierher alle vernichtet haben. Ich möchte jedoch annehmen, dass andere versuchen werden, uns einzuholen, wenn sie merken, dass die drei aus der Herberge ihr Ziel nicht erreicht haben. Wir wollen uns daher beeilen, den Fluss zu erreichen. Vielleicht können wir dadurch unsere Spuren verwischen. Oder sagt dir dein Gefühl, dies sei nicht der richtige Weg?“
„Nein“, antwortete Sarja knapp, „ich glaube, wir nehmen die richtige Richtung.“
Schweigend ritten sie weiter. Gelegentlich versuchte Nador, mit Sarja eine Unterhaltung anzuknüpfen, doch sie war einsilbig, und schließlich gab es auf. Auch er wickelte sich fester in seinen Umhang, denn der Wind pfiff auch heute unvermindert kalt über die Ebene, obwohl die Sonne schien.
4. Ein verhängnisvoller Sturz
Zwei weitere Tage vergingen so. Sarja war immer noch schweigsam und hüllte sich bei ihren Nachtlager n immer etwas abseits von Nador in ihre Decken. Nachts hörte er sie manchmal seufzen, und einmal vernahm er unterdrücktes Schluchzen, das unter ihrer Decke hervorklang. Ein glühender Schmerz zerriss seine Seele. Verzweifelt warf er sich herum und zog die Decke über die Ohren.
Am dritten Tag schien Sarja sich etwas gefangen zu haben. Sie sprach wieder mehr, und gelegentlich zeigte sich auch ein kleines Lächeln auf ihren Lippen, das jedoch immer viel zu schnell wieder verschwand. Ab und zu jedoch, wenn er sie unverhofft anblickte, sah er ihre schönen Augen mit dem Ausdruck eines zu Tode getroffenen Tieres auf sich ruhen. In diesen Momenten hätte er fast seinen Entschluss aufgegeben, und er haderte mit seinem Schicksal, das ihn zum Außenseiter hatte werden lassen.
Gegen Nachmittag des vierten Tages sahen sie in der Ferne eine Hügelkette.
„ Dort hinter den Hügeln ist der Fluss“, rief Nador. „Morgen um diese Zeit werden wir ihn erreicht haben.“
Das Wetter hatte es gut mit ihnen gemeint, denn die Tage waren zwar kalt, aber sonnig gewesen. Nur der Wind zerrte weiterhin an ihren Kleidern und bald auch an ihren Nerven. Ihre Vorräte waren aufgebraucht, und Sarja hatte schon zweimal mit ihrem Bogen einen der Hasen erlegt, die die Ebene zahlreich
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