Die Küsten der Vergangenheit
Universität von North Dakota hergekommen war, hatte April an einem Wochenende mit dem Wagen einen Ausflug in die Black Hills unternehmen wollen. Aber sie war die Größe der westlichen Staaten im Vergleich mit den Oststaaten nicht gewohnt, und die endlosen Highways waren ihr bald auf die Nerven gegangen. Sie hatte kehrtgemacht und war auf das Sioux-Reservat entlang der Südküste von Devil’s Lake gestoßen (an der Nordküste lag eine wohlhabende Präriestadt gleichen Namens).
Nach und nach war ihr Interesse an dem Indianerstamm wachgeworden. Sie hatte einige Freunde gewonnen und mit der Zeit zu einer Lebenseinstellung gefunden, die von den Sioux inspiriert war: Leben unter freiem Himmel, wo es keine Zäune gibt und wo der Große Geist über die Erde spaziert.
Eine ihrer Freundinnen war Andrea Hawk, die als Gastgeberin eine Talk-Show in Devil’s Lake moderierte. Sie hatte in April den Sinn für ein Volk geweckt, das von der Geschichte anscheinend vollkommen übergangen wurde. April war traurig angesichts der Armut im Reservat und Andreas Frustration. »Wir leben von der Unterstützung durch die Weißen«, hatte Andrea ihr verraten. »Wir haben völlig vergessen, selbst für uns zu sorgen.« Andrea erzählte weiter, daß die meisten männlichen Eingeborenen viel zu jung an Drogen und Krankheiten oder durch Gewalt starben, und daß das am besten gehende Unternehmen in vielen Reservaten das des Totengräbers war.
Aprils eigenes Leben war von Zäunen umgeben. Eine Ehe war in die Brüche gegangen. Sie hatte Familie und Karriere gewollt, doch sie war unfähig gewesen, die Bedürfnisse ihres Mannes mit den langen Stunden zu vereinbaren, die ihre Arbeit erforderte. Heute war sie Mitte Dreißig und fühlte sich trotz aller Aktivitäten nicht wirklich ausgefüllt. Sicher, sie war eine erfolgreiche Frau. Trotzdem, wenn sie in dieser Nacht starb, wäre ihr Leben verschwendet gewesen. April würde keine Spuren hinterlassen.
Wenigstens hatte sie sich so gefühlt, bis sie die Ergebnisse der Testreihen an Max Collingwoods Stoffprobe in der Hand gehalten hatte. Eigenartigerweise war April ihre eigene Unzufriedenheit nur vage bewußt gewesen, bis die Resultate vorgelegen hatten und ihr klargeworden war, was sie in den Händen hielt.
Die Reden zu Ehren Harveys nahmen ihren Lauf. Einige Mitarbeiter erzählten, wie sehr sie die Arbeit unter ihm genossen hatten, wie sehr er sie inspiriert hatte und warum er ein so guter Boß gewesen war. Zwei frühere Angestellte von Colson, die inzwischen bei anderen Firmen Karriere gemacht hatten, schrieben ihren Erfolg seiner Inspiration zu. Das erste Prinzip seines Credos, wie eine der beiden sagte, hatte sie durch eine schwere Zeit geführt: Tue stets das Richtige und gib einen Dreck auf die Konsequenzen. Es war Mary Embry, die bei Dow Chemical Betriebsleiterin geworden war. »Das führt zwar nicht zwangsläufig auf der Karriereleiter nach oben«, sagte sie, »doch mir wurde klar, daß ich mich zuerst selbst achten mußte, bevor andere das konnten.« Sie lächelte Harvey herzlich zu, und Keck schien ein wenig verlegen.
Schließlich fügte der Direktor seine eigene Lobrede hinzu. »Vierzig Jahre sind eine lange Zeit«, schloß er. »Harvey hat stets gesagt, was er dachte. Manchmal wollte ich es nicht hören.« Vereinzeltes Gelächter. »Manchmal wollte ich es wirklich nicht hören.« Lauteres Gelächter. »Doch du hast dich niemals geduckt, Harv. Und dafür bin ich dir sehr dankbar.« Applaus.
»Und für jeden in diesem Saal, der selbst eines Tages ins Management aufsteigen möchte, füge ich hinzu: Suchen Sie sich jemanden wie Harvey Keck für Ihren Stab, jemanden, der Ihnen sagt, was Sie hören müssen. Behandeln Sie ihn gut, und machen Sie ihn zu Ihrem Gewissen.«
Hochrufe ertönten. Harvey stand auf, und April sah tatsächlich Tränen in den Gesichtern ringsum. Keck strahlte angesichts der Woge von Zuneigung, die ihm entgegenschlug. Als die Gäste sich wieder ein wenig beruhigt hatten, schob er demonstrativ das Rednerpult beiseite. (Seine beharrliche Weigerung, von einem Pult aus zu sprechen, gehörte zu den grundlegenden Eigenheiten, die Colson geprägt hatten.) Keck dankte seinen Mitarbeitern für ihre Freundlichkeit und sprach über sie, wie er es stets zu tun pflegte. »Auf gewisse Weise«, sagte er, »ist dieser Augenblick der schönste in meinem Leben. Ich gehe in dem Glauben, daß Colson Laboratories heute auf einem solideren Fundament ruht als damals, bevor ich kam, und daß
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