Die Kugel und das Opium
zwei, drei Schritte langsamer als ich, ist von einem Schlagstock niedergestreckt worden, dann hat sich die grüne Wolke um ihn geschlossen, und die Stöcke regneten auf ihn hinab, satsch-satsch-satsch, niederschmetternd. Ich nehme an, es war das Geräusch, wenn Eisen auf Fleisch schlägt.
LIAO YIWU:
Du warst doch auf der Flucht, wie konntest du das sehen?
WU WENJIAN:
Ich war bereits in eine alte Gasse neben dem Beijinger Bahnhof entwischt, sah zu den Soldaten zurück und bin dann auf dem Bauch bis zur Einmündung gerobbt. Es war nur fünfzig Meter entfernt, ich habe alles ganz genau gesehen, sie haben ihn praktisch totgeschlagen. Nachher sind die Soldaten auseinandergestoben, erst da habe ich mich mit ein paar anderen, die sich im Bahnhof versteckt haben, herausgewagt, um ihm zu helfen. Ich habe seinen Kopf in den Arm genommen und ihn mit ein paar anderen durch die ewig lange Gasse (vielleicht war es die Tangren-Gasse) direkt ins Tongren-Krankenhaus, eigentlich eine Augenklinik, gebracht.
LIAO YIWU:
Wer war denn der Mann? Lebt er noch?
WU WENJIAN:
Damals hat er noch geatmet. Aber sein Kopf war völlig deformiert …
LIAO YIWU:
Kaputt?
WU WENJIAN:
Nein, es gab kein Blut, aber sein Kopf war schon kein Kopf mehr, er war auf die doppelte Größe angeschwollen. Wie bei diesem ausländischen Maler, der immer so deformierte Köpfe malt, der heißt, warte, Bacon, richtig, das sind die Sachen von Bacon. Ich habe auf ihn eingeredet, während wir zum Krankenhaus gelaufen sind: »Wo kommst du her?« Er hat noch geantwortet: »Shougang-Eisen«. Dann haben wir ein Fahrrad mit Beiwagen angehalten, aber als wir im Tongren ankamen, lag da eine lange Reihe von Verwundeten. Wir haben den Mann zwei Schwestern übergeben, deren Kittel blutverschmiert waren, und sind weg. Ich war so voller Trauer und Wut, ich war ganz neben der Kappe.
LIAO YIWU:
Wie viele Leute lagen da in dem Krankenhaus?
WU WENJIAN:
Ich weiß es wirklich nicht. Am Eingang zu dem Korridor haben die Krankenschwestern die Leute in Empfang genommen, sie haben niemanden hineingelassen. Ich bin einmal um das Gebäude herum, ich hatte das Gefühl, das ganze Krankenhaus ist voll. Wieder auf der Straße, sind mir die Tränen noch immer übers Gesicht gelaufen, es war schon spät. Der frühe Morgen des 4 . Juni, der ist mir ins Herz gegraben, ich habe mich irgendwo an der Straße ein wenig ausgeruht, und mir gingen nur die ganz großen Fragen durch den Kopf: Was sollte der Staat tun? Was sollte ich tun?
LIAO YIWU:
Wo war das denn?
WU WENJIAN:
Am Busbahnhof in der Nähe vom Qianmen-Tor, ich habe mir einen Bus gesucht und bin eingestiegen. Da waren schon gut ein Dutzend, die ebenfalls in der Bredouille steckten, Studenten, Stadtbewohner, Arbeiter, von außerhalb und einheimische, wir haben die ganze Nacht geredet.
LIAO YIWU:
Worüber denn?
WU WENJIAN:
Nichts, wir haben nur über die Straße geschimpft. Und dass wir Gewehre haben wollten, um es ihnen zu besorgen. Erst als es hell wurde, bin ich mit dem Bus losgefahren und war erst am Mittag zu Hause. Aber das Blut kochte mir noch in der Brust, ich nahm mir ein T-Shirt und schrieb mit dem Pinsel darauf: »Gebt mir die Demokratie zurück! Gebt mir die Freiheit zurück!« Und auf den Rücken habe ich den berühmten Ausspruch von Sun Yatsen, dem Vater der Nation, geschrieben: »Die Revolution ist noch nicht zu Ende, wir müssen, Genossen, noch viel tun!«
Mit diesem T-Shirt am Leib bin ich auf dem Gelände der Yan-Petro herumgelaufen und habe jedem, den ich getroffen habe, erzählt, was in der Stadt los war. An der Kreuzung auf dem Werksgelände haben sich viele Angestellte und Arbeiter zusammengefunden und die Straße blockiert, die Busse kamen nicht durch, und sogar die Fahrgäste sind ausgestiegen. Alle drängten mich zu erzählen, im Grunde haben sie mich einfach mit vielen Händen auf einen Hundertdreier Lastwagen gehievt; das war ihnen noch zu niedrig, also haben sie mich auf das Gestell auf der Lenkerseite geschafft …
LIAO YIWU:
Hast du eine Rede gehalten?
WU WENJIAN:
Ich war doch noch grün hinter den Ohren, wo sollte ich die Beredsamkeit hernehmen? Trotzdem habe ich eine Weile Parolen gebrüllt: »Nieder mit Deng Xiaoping! Nieder mit Li Peng!« und »Streik! Streik!« und »Druck erzeugt Gegendruck!« Ich habe mich um die eigene Achse gedreht und die Leute sehen lassen, was auf meinem T-Shirt stand – später dann haben all jene, die mich da hinaufgehievt haben, auf der »Anklageschrift«
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