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Die Kugel und das Opium

Die Kugel und das Opium

Titel: Die Kugel und das Opium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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sei, dass noch eine ganze Reihe von Leuten eingesperrt sei! Die Leute waren sofort wie vor den Kopf geschlagen, ach so, aha, die Knastgeschichte dieses Dong ist also wahr! Und wir dachten schon, du denkst dir das aus, so zum Spaß.
    LIAO YIWU:
    Trinken Sie noch was, mein Guter, das hebt die Laune.
    DONG SHENGKUN:
    Ich traue mich nicht, ich sollte heimgehen.
    LIAO YIWU:
    Ist das weit?
    DONG SHENGKUN:
    Bis dorthin, wo wir den kleinen Wu heut Abend getroffen haben, war es eine gute Viertelstunde mit dem Rad, das passt schon. Hehe, meine Tochter hat mir erzählt, im Augenblick sei im Internet gerade folgender Spruch besonders in: »Im Leben sollte man zweierlei nicht verpassen: den letzten Bus und den letzten Lover.«
    LIAO YIWU:
    Das stimmt, das stimmt. Ihre Mutter ist die letzte Person, die Sie liebt.
    DONG SHENGKUN:
    Ja, ja, ich muss gehen. Solange ich nicht da bin, sitzt sie da und tut kein Auge zu.

Nachtrag
    Es ist nach elf, wie brechen von dem Restaurant auf, der Nordwind heult, als wolle er eine Hautschicht von der Erde kratzen. Dong Shengkun fährt mit seinem Fahrrad erst los, als er in gefütterter Jacke und Hose und dazu noch mit einem Mundschutz so eingepackt ist, dass nur noch die Augen herausschauen. Wir ziehen die Hälse ein und gehen hastig zur U-Bahn. Auf halbem Weg, das Qianmen-Tor im Rücken, machen wir ein Gruppenbild. Zuvor hatten Dong und Zhang beide höflich abgelehnt, mit aufs Bild zu kommen. Ich verstehe ihre Lage, mir bleibt nichts, als das Gelage ein paarmal abzulichten, die leere Flasche Erguotou, in der Linse nimmt das heroische, ehrfurchteinflößende Formen an.
    Zwischen Aufstampfen und Geplauder hat Zhang Maosheng sich interessiert gezeigt an den christlichen Hausversammlungen, er meint, da könne er mit mehr Leuten in Kontakt kommen. Ich ermutige ihn nach Kräften, sage, versuch es einfach, vielleicht ist Gott zuverlässiger als die Demokratiebewegung. Wu Wenjian allerdings meint: Leute wie wir müssen zusammenhalten, wir müssen uns auf uns selbst verlassen.
    Ein warmes Gefühl durchströmt mich, aber Männer können einander nicht einfach die Hand halten, um einander die Sympathie auszudrücken, wie Frauen das machen. Vor dem Eingang zur U-Bahn klopfe ich Zhang Maosheng auf die Schulter, wortlos; doch Wu Wenjian holt einen Witz aus der untersten Schublade: Brüder, geht es denn bei euch noch?
    Zhang Maosheng lacht gradheraus: Keine Chance, es auszuprobieren.
    Wu Wenjian macht weiter: Als ich rauskam, war ein, zwei Jahre nichts zu wollen. Was man lange nicht benutzt … ich wollte es wie verrückt, und wenn es so weit war, war alles weg.
    Zhang Maosheng sagt: Das geht allen so, die lange gesessen haben. Jetzt los, weiter. Über das Thema können wir die ganze Nacht reden und finden kein Ende.
    Leere Gänge. Unwillkürlich drehe ich mich um, Zhang Maosheng steht noch oben am Eingang zur U-Bahn, leuchtend im pfeifenden Wind. Doch im Nu ist er verschwunden. Er geht allein nach Hause.
    Plötzlich klingt in meinen Ohren das Lied des taiwanischen Sängers Hou Dejian »Komm heim, komm heim«: »Komm heim, der Frühling war so schön, er ging so jung … wann werden wir uns wiedersehn, wiedersehn?«
    Die letzte U-Bahn kommt donnernd herein. Wir beide sind die einzigen Fahrgäste. Und die anderen? Dong Shengkun, Zhang Maosheng oder Hou Dejian, der 1989 am Hungerstreik auf dem Tiananmen teilgenommen hat? Wann werden wir uns wiedersehen?

Yu Zhijian,
Aktionskünstler
    Am Nachmittag des 23 . Mai 1989 habe ich über eine Liveübertragung im Fernsehen im Tausende Meilen entfernten Sichuan mit eigenen Augen Yu Zhijian, Yu Dongyue und Lu Decheng gesehen. Sie waren die »drei Krieger aus Hunan« (offiziell die »drei Schurken aus Hunan«), die das Bild von Mao Zedong, das über dem Haupteingang zur Verbotenen Stadt hängt, mit faulen Eiern beworfen haben.
    Diese im In- und Ausland Bestürzung hervorrufende Tat geschah gerade einmal drei Monate nach der Ausstellung für Moderne Kunst am 5 . Februar in Beijing. Diese Veranstaltung war die konzentrierteste Demonstration von Aktionskunst, die es seit Menschengedenken in China gegeben hat. Unter anderem bestand sie aus Schüssen auf Telefonzellen, erwachsene Menschen brüteten Eier aus, hüllten sich in weiße Trauergewänder und verteilten an die Menschen auf der Straße Kondome. Es kam unentwegt zu heftigen Zusammenstößen mit der Polizei – den Vertretern des herrschenden Systems. Unentwegt wurden Menschen zusammengeschlagen, vom Ort des Geschehens

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