Die Kunst des Sterbens: Thriller (German Edition)
den Kindern den Zug bestiegen, und obwohl er sich freute, bei ihnen zu sein, war er während der gesamten Reise gereizt gewesen, denn er musste E-Mails und Anrufe zu dem Fall beantworten, aber darüber hinaus gingen ihm Gedanken durch den Kopf, die er nicht ganz zu fassen kriegte. Zum Teil lag es daran, dass er sich mit Dean Oliver, einem Privatdetektiv – es gab keine bessere Bezeichnung für ihn – abgeben musste, den er nur vage kannte. An Dean war nichts auszusetzen. Er war einfallsreich, clever, ja, auf seine Art sogar charmant, doch er betrieb ein schmutziges Geschäft, und Webster hätte lieber Abstand zu ihm gehalten. Aber er hatte ihn heute Morgen angerufen und Shokhors Telefonnummern durchgegeben, und Oliver hatte ihm in einem möglichst beruhigenden Tonfall erklärt, er werde sehen, was er tun könne, und vorgeschlagen, sich am Wochenende zu treffen. Webster wusste nur zu gut, wozu er fähig war und welche Probleme das nach sich ziehen konnte – obwohl in diesem Fall, das redete er sich ein, das Risiko sehr gering sei.
Nein, da war noch etwas anderes. Nach einer kurzen Schonfrist hatte Elsa ihm zu verstehen gegeben, dass er sich wieder auf die Reihe kriegen müsse, und für den Rest der Reise hatte er sich größte Mühe gegeben, möglichst gut gelaunt zu wirken und die Tatsache zu verbergen, dass die ganze Zeit etwas an seinen Nerven zerrte.
Sie fuhren zum Geburtstag seines Vaters nach Cornwall, er wurde fünfundsechzig. Patrick Webster mochte keine großen Feiern, aber die Familie wäre da, zusammen mit ein, zwei guten Freunden; Websters Schwester, eine Anwältin für Familienrecht, kam von Edinburgh, wo sie ihr Büro hatte, heruntergeflogen. Morgen Abend würden sie alle zusammen essen, und Webster sollte eine Rede halten; in der Hektikseiner alltäglichen Verpflichtungen hatte er nicht einen Gedanken daran verschwendet, und jetzt, wo er durchs Wasser glitt und nach jedem vierten Zug Luft holte, schämte er sich, dass er einem Mann wie Darius Qazai mehr Zeit widmete als seinem eigenen Vater.
Wie unterschiedlich die beiden Männer doch waren. Patrick Webster war Psychiater, der sich der Betreuung schwer kranker Menschen verschrieben hatte: Menschen mit Schizophrenie, klinischen Depressionen und bipolaren Störungen, jenen armen Seelen, die von ihrer Psyche im Stich gelassen worden waren.
Als Junge hatte er den Beruf seines Vater rätselhaft gefunden und auch ein wenig beängstigend – nicht weil er das Gefühl hatte, in Gefahr zu sein, sondern weil er es eine beklemmende Vorstellung fand, zugleich erschreckend und merkwürdig real, dass die eigene Psyche versagte. Sein Vater hingegen sah das überhaupt nicht so. Er war ein ruhiger Mann, belesen, er interessierte sich für Geschichte und verfolgte das allgemeine Weltgeschehen, im Herzen ein Sozialist, wenn auch nicht Mitglied einer Partei, und immer freundlich. Er versuchte stets, den Menschen zu helfen: Als Webster acht Jahre alt war, hatte einer der Väter aus ihrer Straße seine Frau und seine kleine Tochter verlassen und sich mit dem ganzen Geld der Familie aus dem Staub gemacht, und während die beiden ihre Leben neu ordneten, hatten die Websters sie vier Monate lang bei sich beherbergt. Ein paar Jahre später kam ein Obdachloser, mit dem Patrick sich angefreundet hatte, den Sommer über vorbei, um den Garten umzugraben und neu zu bepflanzen, jeden Morgen erschien er pünktlich zum Frühstück, doch nach drei Wochen hörte er mitten in der Arbeit – die natürlich überflüssig war – einfach auf. Wäre Patrick im achtzehnten Jahrhundert geboren worden, hätte man ihn als Philanthropen bezeichnet, und selbst seine sarkastische, spöttische Seite war von Humanismus durchzogen, wenn er gegen Anspruchsdenken und Ungerechtigkeit wetterte. Obwohl er seinen maßlosen Ärger gerne mit Witzen kaschierte, konnte er auch in eine absolut trübsinnige Stimmung verfallen.
Nach zehn Minuten hatte Webster Frenchman’s Creek erreicht, wo die Bäume, die sich über das Wasser neigten, so dicht begrünt waren, dass er dort nicht zum Ufer sehen konnte. An einer Boje nahe der Mündung verschnaufte er und sah, wie dreißig Zentimeter unter der Oberfläche ein Barsch vorüberglitt. Vor Locks Tod hätte er den aktuellen Fall nicht so ernst genommen. Doch jetzt fand er das alles belanglos und anstrengend: Qazais Eitelkeit, Senechals eiserne Art, seine eigene Entschlossenheit, seinem Klienten um jeden Preis irgendeine Verfehlung nachzuweisen.
Er schwamm weiter,
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