Die Kunst des Sterbens: Thriller (German Edition)
Fahrt hinterließ er Constance eine Nachricht, teilte ihm mit, dass die Angelegenheit inzwischen ernster geworden sei, und bat ihn um einen Rückruf.
Webster war noch nie in Olivers Büro gewesen; bei ihren zwei, drei Begegnungen hatten sie sich immer auf neutralem Boden getroffen, sodass man das Gefühl hatte, Abstand zu wahren. Niemand wollte mit ihm zusammen gesehen werden, und vielleicht wusste er das auch, denn tagsüber verbrachte er seine Zeit in einem einzelnen Zimmer in einem kleinen Gewerbegebiet in einem unbedeutenden Teil Londons, wenige Hundert Meter vom Gefängnis entfernt – womöglich musste er jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit daran denken.
Dean Oliver war der einzige aus der merkwürdigen Schar von Leuten, die hin und wieder für Webster arbeiteten, über den er nicht das Geringste wusste: weder wo noch mit wem er zusammen lebte, noch was ihm wichtig war; noch wie er dazu gekommen war, jene heiklen und vertraulichen Aufträge durchzuführen, die ihn so nützlich machten. Noch weniger wusste Webster über seine Geschäftsgeheimnisse, und das war wohl auch gut so. Nach jedem Treffen hatte er das Gefühl, dass er eher zu viel gesagt hatte, und das ließ ihn gleichzeitig verunsichert und beruhigt zurück.
Selbst Olivers Gesicht gab nicht viel preis. Es war das ganze Jahr über verdächtig gleichmäßig gebräunt, dabei so glatt und nichtssagend, dass man von ihm nur schwer einen dauerhaften Eindruck bekam. Seine Wangen waren straff und stets perfekt rasiert, und seine Lippen etwas zu voll. Sie waren das einzig Bemerkenswerte an ihm, ja, alles, was überhaupt von ihm sichtbar war. Den Rest seines Gesichts bedeckten Strähnen dünnen braunen Haares, die ihm in die Stirn fielen, und eine Brille mit Metallgestell, deren getönte braune Gläser so dunkel waren, dass man seine Augen nicht sehen konnte. Wenn man neben ihm saß, war es unmöglich zu erkennen, ob er einen mit stechendem Blick musterte oder ob er einfach bloß mit ausdruckslosen Augen an einem vorbeistarrte.
Seine Stimme war das einzig Charakteristische an ihm: Sie war kräftig, aber trotzdem ruhig, voller Anteilnahme und Herzlichkeit, und er sprach mit einem leichten Singsang, der einen unwiderstehlich in seinen Bann zog. Das war von Vorteil, und es überraschte nicht, dass er seine ganze Arbeit vom Telefon aus erledigte.
Oliver fragte Webster, ob er einen Kaffee wolle – »Ich würd ihn nicht trinken, er ist nicht gut« –, und schrieb eine E-Mail zu Ende. In seinem Büro gab es fünf Telefone: zwei Festnetzanschlüsse und drei Handys, die auf einem 60er-Jahre-Holzschreibtisch säuberlich aufgereiht neben einem Laptop lagen. Während Webster ihm beim Tippen zusah, ertappte er sich dabei, wie er sich dieselben unausgesprochenen Fragen stellte, die ihm jedes Mal in den Sinn kamen, wenn sie sich trafen. Aber irgendetwas an Oliver hielt ihn davon ab, sie tatsächlich zu stellen: eine Aura der Zurückgezogenheit, eine Rolle, die er mit Bedacht konzipiert hatte, um nichts preiszugeben. Allerdings fürchtete sich Webster mehr vor der Antwort als vor seiner Reaktion. Es war kaum denkbar, dass dieser außergewöhnliche Mann, der dieser außergewöhnlichen Tätigkeit nachging, mal ein Kind gewesen war oder sich bei seiner Mutter ausgeweint hatte, Shorts getragen hatte oder in Urlaub gefahren war.
Eines jedoch war allzu offensichtlich: Dean liebte seine Arbeit. Von diesem versteckten Unterschlupf aus machte er heimlich Jagd auf Einrichtungen, die dumm genug waren zu glauben, sie könnten ihre Informationen unter Verschluss halten. Banken, Krankenhäuser, Gemeindeverwaltungen, Ministerien und Universitäten, sowie Firmen, die Telefone, Strom und Kredite verkauften: Sein Job war es, bei ihnen einzudringen, sich zu holen, was er brauchte, und wieder abzuziehen, ohne eine Spur zu hinterlassen. Er benötigte dazu fast nur seine Cleverness, und bei jedem Zielobjekt spielte er eine andere Person. Gegenüber den örtlichen Bankfilialen gab er sich als Mitarbeiter des Betrugsdezernats in London aus; gegenüber dem Mitarbeiter einer Handyfirma, die Rechnungen verschickte, als Kunde; gegenüber dem örtlichen Finanzamt als Kollege eines anderen Amtes, der ein paar Unstimmigkeiten klären wollte. Sein Job bestand aus einer Abfolge kleiner Maskeraden. Aber trotz seiner Konturlosigkeit lag sein größtes Talent nicht darin, den Menschen etwas vorzuspielen, sondern ihnen Informationen zu entlocken; er verkörperte weniger eine Rolle, sondern erschuf einen
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