Die Kunst, gelassen zu erziehen
alten China gab es einen jungen, ehrgeizigen Bauern, der ein großes Feld erworben hatte und nun darauf brannte, seine erste Ernte einzufahren. Er kaufte besonders ertragreiches Saatgut, und so konnte er mit der Arbeit beginnen. Nachdem er den Boden bearbeitet, die Saat ausgebracht und alles Weitere für ein gutes Wachstum der Pflanzen getan hatte, legte er sich zufrieden zur Ruhe. Jeden Morgen schaute der junge Bauer nun auf seinem Feld nach, ob seine Saat schon aufgegangen war. Groß war seine Freude, als die ersten Halme aus der Erde kamen. Schon bald war das ganze Feld übersät von jungen Trieben. Doch deren Wachstum dauerte ihm viel zu lange. Er wollte doch so schnell wie möglich die Früchte seiner Arbeit in Händen halten!
Eines Abends hatte er eine Idee: Wie wäre es, wenn er an allen Halmen ein wenig ziehen würde, um sie so zu schnellerem Wachstum anzuregen? Er war so begeistert von diesem Einfall, dass er sofort auf sein Feld hi-nausging und bis tief in die Nacht hinein an jedem einzelnen Hälmchen zog und zupfte.
Am nächsten Morgen lief er voller Erwartung auf sein Feld. Aber was musste er sehen: Alle jungen Triebe lagen verwelkt auf dem Boden, seine ganze Arbeit war umsonst gewesen! Diese Lektion sollte er sein ganzes Leben lang nicht vergessen: »Wachstum und Entwicklung brauchen ihre Zeit« erkannte er, »und ich erreiche nichts Gutes, wenn ich versuche, diese Zeit zu verkürzen.«
Eine geeignete Umgebung schaffen
Jedes Kind enthält in sich sein eigenes, spezifisches Entwicklungsprogramm. Allerdings kann sich sein Potenzial nur dann entfalten, wenn es eine seinen ENTWICKLUNGSBEDÜRFNISSEN entsprechende Umgebung vorfindet. Entscheidungsfähigkeit, Kreativität, Intelligenz sowie soziales und ethisches Verhalten entwickeln sich ganz natürlich, wenn seine Bezugspersonen dies ermöglichen. Es ist unsere Aufgabe als Erwachsene, Kindern in ihrer Entwicklungszeit immer wieder ein Umfeld zu schaffen, das es ihnen erlaubt, ihren echten Bedürfnissen gemäß zu leben.
Da jedes Lebewesen an erster Stelle auf Überleben ausgerichtet ist, wird es sich zwar seiner Umgebung so weit anpassen, dass es möglichst nicht zugrunde geht. Sein volles Potenzial kann aber nur dann zur Entfaltung kommen, wenn die Umgebung das enthält, was es zu seiner Entwicklung benötigt. Das ist zu jeder Zeit seines Lebens etwas anderes. Deshalb ist die »VORBEREITETE UMGEBUNG« , wie Maria Montessori es nannte, nichts Starres, sondern etwas höchst Flexibles und Unterschiedliches. Sie beinhaltet Gegenstände und Spielzeug, mit denen das Kind seinen Geist üben kann, und vor allem Menschen, die es liebend unterstützen und an denen es »sich reiben« kann.
Innere Sicherheit und Wachstum
Findet ein Kind eine geeignete Umgebung vor, gelingt es ihm, den Widerspruch zwischen den beiden Grundbedürfnissen aufzulösen: Es möchte sich auf der einen Seite verbunden fühlen, anfangs vor allem mit seinen Eltern. Auf der anderen Seite möchte es über sich selbst hinauswachsen, sich weiterentwickeln und sein eigenes Leben führen. Denken Sie an ein zweijähriges Kind. Es bewegt sich von seiner Mutter weg, gleichzeitig vergewissert es sich ständig, dass sie noch da ist. Mit zunehmendem Alter und wachsender Sicherheit traut es sich immer weiter fort und genießt seine Freiheit immer länger. Sehr schön kann man diesen Prozess immer wiederbei entsprechenden Angeboten für Kinder beobachten (zum Beispiel beim EntdeckungsRaum, (siehe >) . Meist richten sich solche Kurse an Eltern mit Kindern ab etwa drei Monaten bis zu zwei Jahren. Dabei trifft sich normalerweise einmal in der Woche eine Gruppe von etwa acht Kindern mit ihren Müttern oder Vätern für rund eine Stunde in einem Raum, der die Kleinen zu ENTDECKUNGSREISEN einlädt. Die Kinder beginnen – ganz in ihrer Zeit –, den Raum zu erkunden, ohne von ihren Eltern dazu gedrängt oder motiviert zu werden. Je nach Alter finden sie dort Dinge zum Spielen, Klettern oder Balancieren. Falls ein Kind in Bedrängnis kommen oder ein Konflikt entstehen sollte, ist üblicherweise die Kursleiterin verantwortlich. Die Eltern können entspannt an ihrem Platz am Rand des Raumes bleiben und ihrerseits ihr Kind aus einer neuen Perspektive entdecken. Solche Angebote können eine wichtige Unterstützung für Eltern sein. Gerade im zweiten Lebensjahr, wenn viele Konflikte entstehen, weil das erwachende »Ich« des Kindes oft als »Trotzphase« missverstanden wird, stellen sie für Eltern und Kinder einen
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