Die Kunst, gelassen zu erziehen
ich die Situation auf diese Weise sehen konnte, verlor sie etwas von ihrer Ausweglosigkeit. Statt mich von meinen Gedankenfluten davontragen zu lassen, wandte ich mich meiner Atmung und meinem Körper zu und spürte der Müdigkeit nach. Dann umfasste ich mich mit den Armen und wiegte mich ein wenig vor und zurück – so versuchte ich, dem Ganzen mit Freundlichkeit zu begegnen, statt gegen meine Erfahrung anzukämpfen. Und mein Baby? Es weinte. Mir wurde klar, dass es mich weder manipulieren noch provozieren wollte – es ist nun mal so, dass Babys weinen, wenn sie die Aufmerksamkeit ihrer Eltern brauchen. Als ich die Situation so sah und aufhörte, dagegen aufzubegehren, ging es mir schlagartig besser.
Wenn es uns gelingt, schwierige Situationen und die entsprechenden Gefühle auch nur etwas mehr anzunehmen, so wie sie sind, kann viel unnötiges Leiden vermieden werden. Auch wenn es nicht gerade schön ist, mitten in der Nacht geweckt zu werden, wie die Mutter in dem Beispiel eben – unerträglich wird es vor allem durch die urteilenden oder Angst erzeugenden Gedanken, die ihr durch den Kopf schießen. Wenn wir negative Gedanken als das erkennen, was sie sind – einfach nur Gedanken –, verlieren sie etwas von ihrer MACHT über uns. Wir erkennen, dass die Gedanken, die uns zum Beispiel erzählen, unser Kind wolle uns schikanieren oder wir seien als Eltern unzulänglich, nicht der Wirklichkeit entsprechen. Wir müssen sie nicht glauben. So wird es sehr viel wahrscheinlicher, dass wir dem Kind und uns selbst mit mehr Mitgefühl und Einfühlungsvermögen begegnen.
Das Kind einbeziehen
Wenn unser Kind krabbelt und seine ersten Gehversuche unternimmt, hilft uns Einfühlungsvermögen, seine Freude beim Entdecken der Welt nachzufühlen, aber auch seine Frustrationen, weil vieles noch nicht gelingen will. Welche Eltern wünscht sich wohl ein Krabbelkind? Es wünscht sich solche, die seine Freude teilen und liebevoll und verständnisvoll sind, wenn es wütend und frustriert ist. Es wünscht sich aber auch eine sichere, anregende Umgebung, die es erforschen kann – und eine zuverlässige Person, zu der es immer wieder zurückkehren und bei der es GEBORGENHEIT finden kann.
Fragen Sie Ihr Kind nach seiner Sicht – selbst wenn es noch gar nicht antworten kann. So wird Ihnen eine empathische Haltung von
Anfang an selbstverständlich: »Ist dir das angenehm, wenn ich dir so beim Anziehen helfe?« »Was hast du in diesem Moment empfunden, als die
Kindergärtnerin dir das gesagt hat?« »Wie ging es dir gestern, als wir uns so gestritten haben?« Auf diese Weise lernen Sie Ihr Kind besser kennen,
trainieren Ihr Einfühlungsvermögen und verbessern auch die Kommunikation mit Ihrem Kind. Es spürt Ihr Interesse und bekommt mehr und mehr dasGefühl, wirklich verstanden und angenommen zu werden. Hören Sie sich auch einmal selbst zu: Sprechen Sie mit Ihrem Kind so, wie Sie
selbst sich wünschen, dass ein anderer mit Ihnen redet? Verhalten Sie sich so, dass Ihr Kind Ihnen gerne zuhört? Aktives Zuhören und ACHTSAMES REDEN erfordern Aufmerksamkeit, Zurückhaltung und Stille. Es geht darum, nicht zu unterbrechen, nicht zu urteilen, denn
jeder darf denken, was er will.
Sprechen ist eine sehr wichtige Übung, besonders im täglichen Leben. Die meisten Probleme im Leben sind auf unachtsame Worte zurückzuführen.
[ Godwin Samararatne | buddhistischer Meditationslehrer aus Sri Lanka (1932–2000) ]
Bei älteren Kindern erhalten wir zunehmend Signale, die weniger eindeutig sind, die unser Einfühlungsvermögen immer wieder
herausfordern. Sie geben uns reichlich Gelegenheit, unsere Empathie weiterzuentwickeln. Zwar wird auch ab und zu unser Trost oder eine wortlose Umarmung
gewünscht, doch wird das nicht immer eindeutig ausgedrückt. Oft sind es versteckte Botschaften, trotzige Reaktionen oder Rückzug, mit dem unser Kind auf
uns und unser Interesse an ihm reagiert. Auch dann, wenn es uns zurückweist und unsere Gefühle verletzt sind, kommt es darauf an, dass wir uns weiterhin
bemühen, uns in den Schmerz hineinzuversetzen, den unser Kind in der Situation empfindet. Es soll spüren, dass wir zu ihm stehen, auch wenn uns sein
Verhalten missfällt. Unsere einfühlende Achtsamkeit wird dabei ab und zu auf die Probe gestellt – doch das gehört zum Elternsein dazu.
ÜBUNG
Energie auftanken: Verbindung schaffen
Diese Übung kann uns daran erinnern, was uns wirklich mit unseren Kindern verbindet – jenseits aller
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