Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
mit den sinkenden Wachstumsraten und befeuerte die Wirtschaft mit Steuergeldern. Amüsanterweise gerade nach einem Rezept des Wachstumskritikers Keynes, das dieser nur in Krisenzeiten für statthaft hielt. Bei einem einmal erreichten »stationären Zustand« dagegen, hatte Keynes gemeint, seien staatliche
Aufputschmittel für die Wirtschaft nicht mehr nötig. Die Bundesrepublik aber dopte nun unverdrossen mit Wachstumshormonen und verschuldete sich dafür in bisher ungekanntem Maß. Statt über die möglichen ökologischen und sozialen Folgekosten der vielen Autos nachzudenken, wurden Autobahnen und Schnellstraßen gebaut. Dass eine von Abgasen verpestete und mit Autos zugestellte Stadt an Lebensqualität verliert, kam erst zehn Jahre später das erste Mal ins Bewusstsein. Die GRÜNEN entstanden und forderten tatsächlich so etwas wie eine stationäre Gesellschaft: mehr immateriellen Wohlstand durch nachhaltiges Wirtschaften und weniger materiellen Wohlstand auf Kosten der Umwelt. Sie wurden dafür verlacht, dann bekämpft, und heute gelten viele ihrer Ideale als selbstverständlich. Gleichwohl nehmen wir sie im Alltag kaum wichtiger als unsere anderen moralischen Überzeugungen auch. Die Erfahrung zeigt, dass die meisten Menschen ihre Ideale nur für wenige Minuten oder Stunden ernst nehmen - auf einem Berggipfel oder nach einer aufrüttelnden Reportage -, aber sie bestimmen selten ihr Handeln. Wir verdrängen und verschieben oder beruhigen uns damit, dass wir die Gefahren unseres gesellschaftlichen und persönlichen Wirtschaftens zwar kennen (ja, ja, ich weiß …), aber eben nicht davon lassen können wie von einer schädlichen Zigarette.
Mehr Wirtschaftswachstum ist aus der Sicht der Bürger der Bundesrepublik eigentlich nicht nötig, allenfalls eine gerechtere Verteilung der Güter. Das Durchschnittseinkommen eines deutschen Haushalts liegt bei 3250 Euro; wenig ist das nicht. Sollte sich ihr Lebensstandard in den nächsten Jahrzehnten halten lassen, wären die meisten vermutlich zufrieden. Denn was nützt ein weiteres Auto, wenn man damit zu Stoßzeiten kaum durch die Stadt kommt und keinen Parkplatz findet? Müssen wir die Qualität unserer CD-Spieler, Fernseher und Handys tatsächlich noch steigern und werden dadurch dann glücklicher? Und welchen Vorteil bringt es den Kommunen, weitere Großinvestoren für Einkaufscenter anzulocken, wenn dadurch der Einzelhandel
ruiniert wird? Wie viele neue Autobahnen wollen wir uns auf Kosten der Umwelt noch leisten, bis wir uns eingestehen, dass wir eigentlich genug haben?
Um diese Frage zu beantworten, muss man zwei Dimensionen voneinander trennen: die psychologische und die ökonomische. Eine beliebte psychologische Antwort auf die Frage lautet: Menschen strebten »von Natur aus« nach mehr. Und wer das Gefühl der Stagnation ertragen muss, wird unglücklich, wie etwa die Menschen in den Ländern des früheren Ostblocks.
Es darf allerdings vermutet werden, dass es auch im Realsozialismus alles in allem zufriedene Menschen gab, denen es nicht viel ausmachte, dass ihr Lebensstandard in den 1980er Jahren nicht mehr anstieg. Aber man muss das Blickfeld gar nicht so sehr verengen. Wenn sich der Wohlstand durchschnittlicher Menschen von der Jungsteinzeit bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts kaum merklich gesteigert hat, beschleichen einen leise Zweifel, dass es schon immer in unser aller Natur lag, den Hals nicht voll genug zu bekommen. Noch meine Großeltern hatten kaum nennenswerte materielle Gelüste und lebten ziemlich zufrieden in ihrer kleinen Genossenschaftswohnung. Nach einem »mehr« stand ihnen kaum der Sinn. Nicht anders sahen es viele berühmtere Zeitgenossen meiner Großeltern wie die Kapitalismuskritiker Siegfried Kracauer, Theodor W. Adorno, Ernst Bloch und Walter Benjamin. Für sie war die unersättliche kapitalistische Gier nicht ein Ausdruck der Menschennatur; vielmehr war sie eine Ideologie, »eine reine Kultreligion, vielleicht die extremste, die es je gegeben hat«. 7 Denn was wir heute für so selbstverständlich halten, dass wir es unserer Natur anlasten, war Menschen über Jahrtausende völlig fremd gewesen.
Auch der eine oder andere Volkswirt würde dem vielleicht Recht geben. Die Natur des Menschen ist eine komplizierte Sache und nicht einfach auf materielle Gier zu reduzieren. Aber dann würde er uns mit tiefem Blick anschauen und erklären, dass es trotzdem nicht anders geht. Unsere Wirtschaft, wird er
sagen, muss nämlich weiter wachsen, ob wir
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