Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
wenig daran ändern. Alles in allem mangelt es in der Bundesrepublik weniger an der grundsätzlichen Bereitschaft, sich zu engagieren, als an der konkreten. Menschen, die sich bürgerschaftlich einsetzen, sind oft durch einen Zufall oder durch eine Freundschaft dazu gekommen und nicht aufgrund prinzipieller Überlegungen oder aufgrund einer moralischen Maxime. Denn wer mit dem Prinzip anfängt, weiß oftmals gar nicht, wie er es umsetzen soll. Für welches Engagement soll er sich entscheiden? Bürgerinitiative, Rotes Kreuz, Terre des hommes, Essen auf Rädern, Greenpeace?
Doch freiwillige Nachbarschaftshilfe und bürgerschaftliches
Engagement sind nicht nur auf Freizeitaktivität beschränkt. Ein echter Bürgersinn geht, wie am Beispiel des Rathenauplatzes gezeigt, weit darüber hinaus. Etwa, dass sich der Verein gegen Mietwucher und Immobilienspekulation im Viertel zur Wehr setzt. Man kann auch darauf hinarbeiten, die Bewohner eines Viertels dazu zu bringen, kollektive Verträge mit einem ökologisch vorbildlichen Stromversorger abzuschließen.
Ein politisch wichtiges Ziel - eines der wichtigsten überhaupt - wäre es, die Bewohner von Stadtvierteln mithilfe von Volksentscheiden viel mehr selbst bestimmen zu lassen - nämlich überall dort, wo es um unmittelbare Lebensqualität geht. Spätestens seit Anfang der 1980er Jahre diskutiert die Gesellschaft über autofreie Innenstädte. Das Ergebnis ist deutschlandweit gesehen eher dürftig. Wenn überhaupt, so nehmen die Kommunen hierbei auf den Tourismus Rücksicht oder auf verkehrstechnische Widrigkeiten, die sich ohne den Abriss alter Gemäuer nicht beseitigen lassen. Viel schöner und weitaus demokratischer wäre es jedoch, die Bewohner von Stadtvierteln per Mehrheitsentscheid selbst bestimmen zu lassen, ob sie den Autoverkehr in ihrem Stadtteil haben möchten oder nicht.
Würde dies ermöglicht, so ist durchaus denkbar, dass Stadtteile wie das Kwartier Lateng und das Belgische Viertel in Köln oder der Prenzlauer Berg in Berlin und viele mehr bald autofrei wären (mit Ausnahme von Polizei, Krankenwagen und Feuerwehr). Gerade für die heutige Elterngeneration, die ihre Kindheit in einer Welt voller Autogefahren und Abgasen verbracht hat, wäre dies vielfach eine Vision, ins Leben gefallen wie aus einem idyllischen Kinderbuch: den Nachwuchs mitten in der Stadt einfach so - gefahrlos - über die Straße gehen lassen zu können! Die Stühle und Tische der Sommergastronomie auf die neuen Boulevards stellen, wie in Bologna! Was für ein Gewinn an Lebensqualität!
Tatsächlich ist unsere automobile Gesellschaft nicht nur ein Segen, sondern zugleich ein Fluch. Auf jede neue Freiheit folgte eine neue Unfreiheit. Um den Anforderungen des Straßenverkehrs
zu genügen, musste die Lebensqualität in den Städten verringert werden. Kaum eine europäische Großstadt kennt nicht Plätze, die nach dem Zweiten Weltkrieg zu Kreuzungen und Betonwüsten umgebaut wurden. Lebensqualität sollte jetzt Mobilität sein und nicht mehr Ruhe, gute Luft und eine nachbarschaftliche Infrastruktur. Die Vision von der mobilen Gesellschaft, aus den USA importiert, lockte in den 1960er und 1970er Jahren den Mittelstand aus den Innenstädten in die neuen uniformen Einfamilienhaus-Ghettos am Stadtrand und auf den Feldern. Die Verschuldungswelle mit ihren neuen Abhängigkeiten zwang die Bewohner zum Pendeln um jeden Preis. Der Staat baute neue laute Zubringerstraßen in die Landschaft. Mehr als zwei Stunden Stau und Verkehrsstress waren keine Seltenheit mehr. Und zum Einkaufen in den neuen Lebensmittelcentern benötigte die Gattin ebenso einen Zweitwagen wie für die Fahrt zum Tennisclub.
Die ganze Entwicklung, die ohne den Massenverkauf von Autos nicht möglich gewesen wäre, steigerte das BIP. Sie steigerte aber auch die Umweltverschmutzung, die Zersiedelung der Landschaften, den Status-Wettkampf, das Anwachsen der Scheidungsraten und die kollektive Geburt der midlife crisis. Kein Wunder, dass unter solchen Vorzeichen das Glück der Gesellschaft schon lange nicht mehr wächst.
Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Und während wir über Jahrzehnte fast nur die vermeintlichen Vorteile unseres neuen Lebenswandels vor Augen hatten, entdecken wir nun allmählich den gezahlten Preis. Was für die Ökologie gilt, gilt auch für das Soziale. Viel zu lange haben wir nur auf die eine Seite der Medaille geschaut. Wir haben mehr Freiheit und Sicherheit gewonnen, aber »um den Preis erheblicher
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