Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
könnte
Er war ein Titan seiner Zeit. Der Erfinder der Biologie und der Psychologie. Ein Mann, der die Ethik aus dem Himmel holte und in den Herzen der Menschen verankerte. Ein Mann des unbegrenzten Wissensdurstes, ein Physiker, Logiker, Philologe und Politologe. Ein Mensch, der immer alles zugleich wissen wollte: wie das Gehirn denkt, nach welchen Regeln und was es vielleicht besser und anders denken sollte. Was ihn interessierte, was er begründete und vorbereitete, umfasst heute alle Fakultäten einer Universität.
Umso erstaunlicher ist es, wie wenig wir über sein Leben wissen. 1 Ein paar Briefe, ein Testament, Gedichte und Ehrenbekundungen sind alles, was aus seinen Lebzeiten über ihn selbst erhalten ist. Aristoteles wurde 384 vor Christus geboren, in der nordgriechischen Stadt Stageira auf der Halbinsel Chalkidiki. Sein Vater Nikomachos, der Leibarzt des makedonischen Königs, stirbt früh. Schon mit 17 betritt Aristoteles das erste Mal Platons Akademie. Obwohl die Athener ihn als »Ausländer« geringschätzen und ihm alle politischen Rechte verweigern, wird er ihr mit Abstand berühmtester Schüler und neben Platon selbst ihr bedeutendster Lehrer. Ein zweifelhaftes Dokument, sechshundert Jahre später verfasst, beschreibt ihn dabei ziemlich unvorteilhaft. Danach war er von schwächlicher Statur, hatte kleine Augen und stieß beim Sprechen mit der Zunge an. Gekleidet und gepflegt aber sei er gewesen wie ein Dandy.
Aristoteles’ Interessen sind noch breiter als diejenigen Platons.
Besonders die Naturwissenschaften faszinieren ihn. Er schreibt Texte über Naturphilosophie, Logik und Wissenschaftstheorie und beginnt früh, sich von dem Schatten seines 45 Jahre älteren Mentors zu befreien. Was Platon über den eigenständigsten und kritischsten seiner Schüler dachte, wissen wir nicht. Was Aristoteles über Platon denkt, fasst er in den berühmten Satz: »Ich liebe Platon, aber noch mehr liebe ich die Wahrheit.«
Als Platon 347 stirbt, ist Aristoteles 38 Jahre alt und ein weit über Athen hinaus berühmter Mann. Doch weder wird er Platons Nachfolger in der Akademie, noch kann er weiterhin in Athen bleiben. Im Norden Griechenlands beginnt Makedoniens König Philipp II. seinen Expansionskrieg nach Süden. Die Athener fühlen sich, nicht zu Unrecht, bedroht. Für den als Freund der Makedonen bekannten Aristoteles eine schwierige Situation. Gemeinsam mit einigen Schülern findet er Unterschlupf in Kleinasien, der heutigen Türkei. In der Stadt Assos, gegenüber der Insel Lesbos, lebt er in einer komfortablen Philosophenenklave, lernt seine Frau kennen und bekommt einen Sohn, den er nach seinem Vater nennt: Nikomachos. Zwei Jahre später siedelt er nach Lesbos über und unternimmt ausgedehnte Studien der Natur, unterstützt von seinem Schüler Theophrastos.
In dieser Lage erhält Aristoteles ein verstörendes Angebot, das er nicht ablehnen kann. Philipp II. sucht einen Erzieher für seinen 13-jährigen Sohn Alexander. Der größte Philosoph seiner Zeit wird Lehrer des dereinst größten Feldherren seiner Epoche. Drei Jahre lang plagt sich Aristoteles im makedonischen Mieza mit der Erziehung des ungestümen Prinzen herum. Details sind nicht bekannt. Aristoteles erwähnt seine Lehrtätigkeit und seinen berühmten Schüler an keiner Stelle.
Während Aristoteles sich mit Alexander abmüht, erobert dessen Vater Philipp die rebellische Stadt Theben und dehnt sein Herrschaftsgebiet bis nach Athen aus. Im Alter von fünfzig Jahren kehrt Aristoteles an den Ort seines Studiums und der Lehre zurück. Mit der neuen Führung der Akademie aber scheint
er sich nicht zu verstehen. Am Lykeion, einem Gymnasium, schafft sich der Heimkehrer eine neue Wirkungsstätte. Hier findet er Zeit und Ruhe für eine Generalinventur seiner Gedanken, schreibt neue Texte und unterrichtet seine Schüler.
Als Alexander der Große 323 stirbt, ist diese schöne Zeit vorbei. Das Reich des Makedonen zerbricht, und in Athen sammeln sich neue Kräfte. Und wieder ist Aristoteles der feindliche Ausländer, der Freund der Makedonen. Stärker noch als bei seiner ersten Flucht muss er nun um sein Leben fürchten. Er gerät unter die Anklage der Gottlosigkeit, die schon bei Sokrates zum Todesurteil geführt hatte. Hastig verlässt der 61-Jährige die Stadt und zieht sich zurück nach Chalkis auf die Insel Euboia. Ein Jahr später ist Aristoteles tot.
Warum ist dieser Mann so bedeutend? Im Hinblick auf unser Thema fällt die Antwort leicht: Er war der
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