Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
einem Matheschüler, einem Liebhaber oder dem Fernsehzuschauer bei einem Fußballspiel: Zu wissen, wie es geht, bedeutet noch lange nicht, es zu können! 3 Erst aus der Erfahrung heraus lernen wir, was uns langfristig guttut und was uns wirklich erfüllt. Durch manchmal mühsames Lernen üben wir uns darin, unsere Gefühle und unsere Vernunft auszubalancieren. Beides brauchen wir zu einem guten Leben. Doch die Feinabstimmung ist nicht leicht. Wer seine Gefühle verdrängt, erlegt sich »unmenschliche« Regeln auf und überfordert sich psychologisch. Und wer die Vernunft geringschätzt, wird zu Regeln erst gar nicht kommen. Wenn wir schlau sind, lernen wir unsere Begierden und unsere Einsichten in Einklang miteinander zu bringen. Und wir lernen, gut mit anderen Menschen umzugehen. Ein erfülltes Leben ohne Ansehen
ist kaum möglich. Die Bestätigung von innen und die Bestätigung von außen sind zwei Seiten einer Medaille.
Für Aristoteles besteht der praktische Weg zu einem guten Leben darin, dass man gute Eigenschaften ausbildet, die Tugenden. An dem Tag, an dem wir aus dem Geburtskanal kommen, bringen wir bereits die Anlagen dazu mit, ein guter Mensch zu sein. Was Marc Hauser und Jonathan Haidt »soziale Intuitionen« nennen, ist auch für Aristoteles eine Selbstverständlichkeit. Aber ebenso klar ist, dass diese Anlagen gefördert werden müssen, durch Erziehung und Training. Aus guten Anlagen sollen bewusst gewählte Charaktereigenschaften werden. Die Crux, die alle Eltern dabei kennen, ist auch Aristoteles bewusst: Worauf soll man den meisten Wert legen? Welche Tugenden sind die wichtigsten? Ist es wichtiger, dass unsere Kinder mitfühlend und hilfsbereit sind? Oder ist der Sinn für Gerechtigkeit das höhere Ziel? Bringen wir ihnen bei, immer und in jeder Situation aufrichtig zu sein? Sollen sie zurückschlagen, wenn sie von anderen Kindern geohrfeigt werden? Oder lehren wir sie den unbedingten Gewaltverzicht? Eine feste Rangordnung dieser Tugenden, wie bei Platon, gibt es für Aristoteles nicht.
Die besondere Pointe ist, dass Tugenden nicht im luftleeren Raum existieren. Ihre einzige Bedeutung liegt im Zwischenmenschlichen. So sind wir gezwungen, von Lebenssituation zu Lebenssituation neu abzuwägen und zu entscheiden, was moralisch betrachtet das Beste ist. Auch wenn wir selbst das anders sehen mögen - für die anderen sind wir nicht die Guten, die Tapferen, die Gerechten, sondern wir sind ihnen gegenüber gut, tapfer oder gerecht. Unter bestimmten Umständen in einer bestimmten Situation. Und erst wenn andere uns als gerecht, tapfer oder gut empfinden, haben wir einen berechtigten Anlass, uns diese Federn auch tatsächlich an den Hut zu stecken. Ein Mensch, der sich selbst als gerecht betrachtet, obwohl kaum jemand in seiner Mitwelt das so sieht, ist nicht gerecht, sondern selbstgerecht.
Die beiden wichtigsten Ideen des Aristoteles haben uns bislang
schon durch dieses Buch begleitet, ohne dass ihr eigentlicher Urheber erwähnt worden ist. Erstens, dass unsere Moral auf natürlichen Anlagen fußt. Und zweitens, dass wir in letzter Instanz nicht unseren Begierden oder Interessen verpflichtet sind, sondern unserem Selbstbild. Deswegen ist es für uns nur halb so schlimm, wenn wir einen bestimmten Wunsch nicht erfüllt bekommen oder eine Absicht misslingt. Viel schlimmer ist es, wenn wir uns als Person angegriffen fühlen. Wenn man uns als Mensch infrage stellt. Wenn man unser Selbstwertgefühl verletzt oder zerstört. Unser Sein - anders lässt sich diese Empfindlichkeit kaum erklären - ist immer mehr als unser Wollen, unsere Reden und unser Tun.
Im Unterschied zu vielen Moralpsychologen der Gegenwart hielt Aristoteles den Charakter des Menschen gleichwohl alles in allem für etwas Einheitliches. Er sah uns nicht als flüchtige Opportunisten des Augenblicks, verführbare Zeitgeistsurfer und durch Tausende Umstände manipulierbar. Er glaubte, dass wir uns so etwas erarbeiten können wie eine charakterfeste Identität. Oder mit Paul Simon in The Boxer gesagt: »After changes upon changes, we are more or less the same.« Aber Aristoteles kannte auch noch keine Experimente, bei denen Menschen das Stirnhirn bestrahlt oder Oxytocin in die Nase gesprüht wird, so dass sie ihr Verhalten völlig verändern. Oder Versuche, bei denen Menschen ihre Hilfsbereitschaft verlieren, wenn man den Lärmpegel um sie herum stark erhöht. 4
Der enorme Rang, den Aristoteles den Tugenden beimisst, wenn es darum geht, unseren
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