Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
erste Philosoph mit einem frappierend realistischen Bild des Menschen. Als Biologe erforschte er das Zusammenspiel unserer Emotionen, unseres Willens und unserer Vernunft. Als Philosoph legte er fest, warum wir nicht nur gut sein sollen, sondern warum es auch verführerisch ist, es sein zu wollen. Und als Psychologe setzte er sich zugleich mit den vielen Problemen auseinander, mit denen wir uns - mal nötig und mal unnötig - selbst im Weg stehen.
Umso erstaunlicher ist es, dass der modernste aller klassischen Philosophen in der Moraldiskussion längere Zeit ein wenig in der Geschichte versenkt war, bis er vor etwa dreißig Jahren vielfach wiederbelebt wurde. Ein zeitgenössisches verhaltensökonomisches Standardwerk zur »Theorie der Entscheidung« kommt auf vierhundert Seiten vollständig ohne seinen Namen aus. 2 Mit leisem Schmunzeln nimmt man wahr, dass das Rad von jeder neu benannten Forschungsdisziplin offensichtlich immer wieder neu erfunden wird. Die Philosophie des menschlichen Verhaltens hat eine lange Tradition, aber ein kurzes Gedächtnis. Und die Probleme, so scheint es, wechseln weniger als das Vokabular, mit dem sie betrachtet werden.
Was Aristoteles an seinem Meister Platon störte, war die systematische Verquickung von Wahrheit und Moral. Für den rebellischen Schüler gehörte beides definitiv nicht zusammen. Was Wahrheit ist, ist eine Frage der Erkenntnis. Was Moral ist, eine Frage der Erfahrung. Und während es für die Fragen der Wahrheit einen objektiven Maßstab gibt, einen Maßstab der Logik, der Mathematik und der Physik, haben wir es bei der Moral immer mit einem subjektiven Maßstab zu tun. Den Himmel »an sich« gibt es, das Gute »an sich« aber gibt es nicht. Und während die Wissenschaft auf die Wahrheit zielt, lässt sich bei der Moral nur davon sprechen, dass uns etwas plausibel zu sein scheint. Und dass es sinnvoll ist, sich danach zu richten.
Aristoteles-Kenner weisen gerne darauf hin, dass auch er nicht völlig frei davon war, das menschliche Verhalten in einen harmonischen Kosmos einzusortieren. Aber die Verknüpfung zwischen der Ordnung der Natur und der Ordnung der menschlichen Moral ist viel weniger streng als bei Platon. Allein das Ziel der »Harmonie« verbindet die idealisierte Vorstellung von Platon und Aristoteles. Ein gutes Leben sollte harmonisch, ausbalanciert und ausgeglichen sein wie der Himmel und das Universum. Doch Aristoteles verstand zu viel von Tieren, um die Natur des Menschen nicht mit der hitzigen, lauten Natur der anderen Tiere zu vergleichen, statt mit dem kalten stummen Lauf der Planeten. Und es ist ein Treppenwitz der Philosophie, dass Moral und Himmel in ihr gleichwohl zweitausend Jahre miteinander verquickt blieben; durch das Christentum ebenso wie durch Immanuel Kant, wenn er in einem Atemzug über den bestirnten Himmel staunt und das moralische Gesetz in ihm. Und alles das vermutlich nur, weil der Kosmos zunächst viel schneller erforscht wurde als unsere Biologie.
Die Frage, die Aristoteles beschäftigt, ist: Was könnte ein gutes Leben sein? In mehreren Texten beschäftigt er sich deshalb mit der Moral. Als wichtigster gilt die »Nikomachische Ethik«, benannt entweder nach seinem Vater oder nach seinem Sohn oder
nach beiden. Gleich im ersten Satz legt Aristoteles fest, worum es bei unserem Handeln geht: Ist es das Ausleben unserer biologischen Natur? Nein, es ist unser Bedürfnis nach Erfüllung und Sinn. Lebewesen, die Absichten haben und erkennen können und sich mit diesen eigenen und fremden Absichten auseinandersetzen, geht es um ein glückendes Leben, die eudaimonia. Wir wollen, dass es uns gutgeht.
Was ist das, die eudaimonia? Schwer zu sagen! Denn so einfach wie bei Platon ist das mit dem menschlichen Glück nicht. Es ist nicht vorgegeben. Und zu seiner Erkenntnis bedarf es mehr als nur eines scharfen, erleuchteten Verstandes. Nicht anders ist es mit dem Guten. Es geht Aristoteles hier wie dem obersten Bundesrichter im Prozess gegen den Hustler -Herausgeber Larry Flint. »Können Sie mir definieren, was Pornografie ist?«, fragt Flint provozierend. »Nein, das kann ich nicht«, antwortet der Richter gelassen, »aber ich erkenne sie, wenn ich sie sehe!« Und ist es mit dem Guten nicht genauso? Man kann nicht genau sagen, was es ist. Aber man erkennt es, wenn man es sieht.
Aristoteles ist ein Kenner der Menschen und ein scharfsichtiger Psychologe. Und so fällt ihm auch noch gleich ein zweites Problem auf. Mit der Moral ist es wie mit
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